Zitronen

Das mit dem Licht ist oft gar nicht so einfach. Zumal man doch deutlich den Eindruck hat, dass viele sich der Tunnelhaftigkeit unserer gegenwärtigen Existenz nicht mal übermäßig bewusst sind. Die FDP zum Beispiel: Hat darin Poster aufgehängt, Teelichter angezündet, deklariert das Ganze als Partykeller und hat angekündigt, gegen nächtliche Ausgangssperren vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen. 

Herrje. Es gibt viele Situationen, in denen ich es als Einschränkung meiner Freiheitsrechte empfinden würde, mit einem Gurt fixiert zu werden. Aber mit Tempo 200 auf der Autobahn? 

Hier in Griechenland muss ich, wenn ich das Ferienhaus verlasse, ein Formular ausfüllen, auf dem anzukreuzen ist, aus welchem Grund man sein Haus verlässt und um welche Uhrzeit. Sie nennen es „Extraordinary Movement Permit“, weil moves in einer Pandemie halt nicht ordinary sein sollten, aber wem sag ich das. Zur Auswahl stehen: B1 Going to the pharmacy or visiting a doctor or to donate blood, in the case that this is recommended after a previous communication, B2 Going to an in-service basic goods supply store, where its commodities cannot be delivered, B3 Going to a government service or the bank, insofar an electronic transaction is not possible, B4 Going to help people in need or escort minor students to/from school, B5 Going to a funeral ceremony under the conditions as provided by law or movement of divorced or legally seperated parents, in accordance with the applicable provisions, B6 Short movement, near my home, for individual physical exercise (excluding any group sport activity) or for pet needs. Leider kommen die Straßenkatzen bei uns ans Haus. 

Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass wir nach Griechenland gefahren sind, weil die Corona-Regeln strenger sind. Aber ich fühle mich tatsächlich deutlich sicherer. Natürlich gibt es auch hier Menschen, die sich nicht an die Auflagen halten. Aber immerhin gibt es welche. Und meines Wissens droht auch nicht alle Nase lang jemand mit Klage dagegen. 

Weil ich keine Lust habe, mich mit der Nachrichtenlage in Deutschland zu beschäftigen, habe ich am Wochenende ein Interview mit Nora Tschirner im SZ-Magazin gelesen. Ich finde Nora Tschirner ziemlich sympathisch. Sie wird darin unter anderem gefragt, ob sie sich noch ihre Auftritte bei Harald Schmidt ansehen kann, der sie mal eine der Top-3-Talkshowgäste in Deutschland genannt hat. Ich habe mir daraufhin einige dieser Auftritte bei Youtube angesehen, darunter auch diesen hier. 

Und obwohl mich wirklich genervt hat, dass direkt im Anschluss an Annalena Baerbocks Nominierung zur Kanzlerinnenkandidatin der Grünen bei Phoenix über ihr Alter (40 – was bei Politikerinnen offenbar ein Problem ist, bei Schauspielerinnen aber auch, nur ganz anders) und die Tatsache diskutiert wurde, dass sie Mutter zweier kleiner Kinder ist und wie man das bitte schaffen möchte, so als Kanzlerin (was in den vergangenen Pandemie-Monaten niemanden interessiert hat: wie Frauen das schaffen, als Mütter und Journalistinnen, Verkäuferinnen, Busfahrerinnen), obwohl mich wirklich genervt hat, dass Caren Miosga (die ich an sich auch ziemlich sympathisch finde) Annalena Baerbock beim ersten Tagesthemen-Interview nach der Nominierung innerhalb von fünf Minuten gleich drei Mal ins Wort fiel, obwohl mich wirklich nervt, dass so getan wird, als müsste man für diese Selbstverständlichkeit – dass eine Frau zur Spitzenkandidatin nominiert wird, wenn sie es kann und möchte – vor allem Robert Habeck auf Knien danken. 

Trotz alldem habe ich diese Aufzeichnung angesehen und dachte: mit dem Stuhl ganz nah an eine junge Frau rollen und sagen: „Ich habe gerade ein Buch gelesen, in dem sich eine 24-Jährige vollkommen einem 48-Jährigen ausliefert“ (hodiges Gelächter im Saal, Tschirner auf ihre nicht vorhandene Armbanduhr schauend) – das wäre heute so nicht mehr drin. Nicht ohne Shitstorm. Und dann hab ich eine Flasche Wein aufgemacht und auf die Cancel Culture getrunken. Weil ganz bestimmt nicht alles gut ist. Aber immerhin besser als vor 15 Jahren. Ein Lichtstrahl, finde ich.

P.S.: Ach so, Zitronen – um die geht es nicht. Aber Du glaubst ja nicht, wie viele hier wachsen!

Macgyverism

»Und dann sind wir halt einfach losgefahren.«  

Mit diesem Satz wollte ich anfangen. Aber dann wurde mir klar, dass das nicht geht, weil ich darüber nächste Woche für meinen Arbeitgeber schreiben soll. Der Satz ist quasi verkauft oder zumindest irgendwie reserviert, zurückgelegt. Also lasse ich den Teil einfach weg und komme direkt zum Punkt: Selbstwirksamkeit! Sich aus dieser quälenden Ohnmacht befreien, die seit mehr als einem Jahr an meinem, deinem, unser aller Psychokostüm zerrt. Ein Problem erkennen, seine Tragweite ermessen und wirksam dagegen vorgehen, mehr noch: Es aus der Welt schaffen, eigenhändig. Ja, da war was, ja, das ging, und natürlich ist es mal mehr und mal weniger schwierig, aber ich habe festgestellt, dass ich mittlerweile so benommen bin von dem andauernden Gefühl, nichts ausrichten zu können gegen das, was mir zusetzt, dass ich selbst im Alltag aufgehört habe, gegen die kleinen Widrigkeiten vorzugehen: die kaputte Glühbirne, den Staub in meiner Wohnung, meine Frisur.

Und jetzt war da also mein Mann, der die falschen Birkenstocks eingepackt hatte. Die mit Zehensteg, dabei ist es um diese Jahreszeit noch viel zu kalt, um barfuß in Schlappen rumzulaufen, selbst hier, wo wir hingefahren sind. Tut er es trotzdem, werden seine Zehen erst ein bisschen rot und dann blau. Versucht er es mit Socken, verliert er beim Laufen die Schuhe. 

Aber dann fielen mir die Wollsocken ein, die er eingepackt hat. Wollsocken, die ich gestrickt habe. Und dann dachte ich, warum nicht die Spitze abschneiden und einen großen Zeh dranstricken. Und ein Käppchen für die übrigen Zehen. Und dann hab ich damit meinen Nachmittag zugebracht und mich darüber gefreut, mit jeder Masche ein Problem zu beheben. Weil ich’s kann und ein bisschen Restwolle dabei hatte. Und wenn man das sperrige Wort Selbstwirksamkeit nicht mag, kann man das Ganze von mir aus auch MacGyverism nennen: sich mit geringen Mitteln aus einer misslichen Lage befreien, Dinge zum Positiven wenden, eine Veränderung bewirken, die manchmal auch noch warm macht.

Ich hatte vergessen, wie gut sich das anfühlt, womöglich sogar, dass ich es kann. Ich bin sehr froh, dass wir losgefahren sind. 

Unter dem Titel »Am Ende des Tunnels« wollen mein Freund und Kollege Stephan Hebel und ich uns in den kommenden Monaten in wöchentlicher Folge auf die Suche nach Lichtblicken machen, im Großen wie im Kleinen.

tag 31

lieber stephan,

die letzte nacht hatte es in sich. nachdem wir am dienstag die grenzen zu serbien (unbefragt) und ungarn (dito) problemlos passiert hatten, steuerten wir am frühen abend hinter budapest eine autobahnraststätte an, um dort die nacht zu verbringen. es ist nämlich so: nicht-ungarn dürfen derzeit nur einreisen, wenn sie nicht vorhaben, sich im land aufzuhalten. sie müssen sich auf vorgegebenen transit-routen bewegen und unterwegs ausgewiesene transit-raststätten aufsuchen.

die temperatur war inzwischen aus serbischen endzwanzigern auf 14 grad gefallen und es hatte angefangen zu regnen. wir parkten den wagen nahe der stadt tata auf einem rastplatz zwischen einer shell tankstelle und einer kentucky fried chicken filiale. ich wickelte mich so gut es ging in den schlafsack ein, während wir auf unseren campingstühlen, dem uns umgebenden gastronomischen angebot zum trotz, tapfer unsere letzten griechischen dosen (bohnen und fleischbällchen) leer löffelten. dann gingen wir zügig zum ouzo über, um uns für die nacht zuzulöten. im auto, zu unseren füßen, gab die tankstelle einen permanenten sonnenuntergang. es war sogar auf eine kaputte weise romantisch.

am nächsten morgen hätte ich noch vor der zweiten tasse nescafé in den besitz eines iphones und vier verschiedener samsung-modelle kommen können, die junge männer mir zum kauf anboten, aber ich hab ja schon ein telefon. wir tranken aus, setzen uns wieder ins auto und fuhren die verbleibenden 900 kilometer runter, abermals ohne umstände an den verbleibenden grenzen. mein eindruck ist, dass die offiziellen bestimmungen in der praxis sehr frei übersetzt werden, vermutlich dienen sie in erster linie der abschreckung. ich versteh das, vermutlich ist es auch vernünftig. dennoch bin ich glücklich, dass wir uns auf dieses abenteuer eingelassen haben. es hat unendlich gut getan unterwegs zu sein, die fühler auszustrecken, ein bisschen leichtigkeit innerhalb des ausnahmezustands zu erleben, der sich tatsächlich etwas weniger bleiern anfühlt als zuvor.

inzwischen hat uns das herbstliche grau wieder – und unsere gemeinsame sommerreise kommt zum ende, was mich noch wehmütiger macht als der wolkenverhangene himmel vor meinem fenster. ich möchte dir von ganzem herzen danken für deine klugen gedanken, für den austausch, für den anteil, den ich in diesem sommer auch auf reisen an deinem leben haben durfte. es hat mir riesigen spaß gemacht – mal sehen, was im weiteren daraus entsteht.

für heute wünsche ich mir, dir möglichst bald mit einem bier in der hand gegenüber zu sitzen und das gespräch mündlich fortzusetzen. sei fester umarmt, als uns das möglich sein wird, und noch einmal: ganz vielen lieben dank!

besitos

* karin

tag 29

lieber stephan,

für deinen leitartikel bekommst du einen ganzen honigtopf für dich allein! ich muss gestehen, dass ich am samstag, während der demo, zum ersten mal in urlaubsstreik getreten bin und versucht habe, einfach gar nichts davon zur kenntnis zu nehmen, vorerst jedenfalls. ich hab ja so schon keine lust wieder nach hause zurückzukommen.

am montagmorgen, der mit einem herzergreifenden sonnenaufgang über dem ionischen meer begann, sind wir losgefahren. nach fünf stunden im auto war griechenland vorbei. ein- und ausreisen kann man auf dem landweg nach wie vor nur über einen einzigen grenzübergang, promachonas, und die bulgaren haben uns einreisen lassen – nicht sehr freundlich, aber das ist in diesem jahr auch gar nicht so wichtig, jedenfalls gab es keine schwierigkeiten. übernachtet haben wir auf einem winzigen campingplatz 40 kilometer westlich von sofia, den wir schon von der hinreise kannten. es gibt ein kompostklo, eine außendusche und wlan. die inhaber, eine kanadierin und ihr bulgarischer mann, haben ein paar stellplätze ins feld gesenst und sind so hinreißend, dass wir bulgarien morgen mit einem fetten freundlichkeitsplus verlassen werden, trotz grenzer.

am abend, bei kerzenlicht unter der offenen heckklappe unseres autos, haben wir uns eine geschichte für die einreise morgen in serbien überlegt, die ist nämlich womöglich ein bisschen heikel. wir haben diverse webseiten konsultiert, auf denen es heißt:

a) man dürfe sich zuvor nicht länger als zwölf stunden in bulgarien aufgehalten haben

b) man müsse serbien innerhalb von zwölf stunden durchqueren.

die offene frage ist, ob oder oder und, ob man uns getrennt dazu befragen wird. oder ob sich in der praxis einfach keine sau dafür interessiert.

wir wollen dann weiter über ungarn, allerdings will ungarn ab morgen keine ausländer mehr einreisen lassen. wie es mit transit aussieht? die einen sagen so, die anderen so, wir werden sehen. 

gesehen hab ich übrigens auch, wie espenlaub zittert, es klingt nach regen. und am horizont versank die sonne hinter serbischen bergen.

besitos

* karin

tag 27

lieber stephan, 

ich kann gut nachfühlen, wie schwer euch die entscheidung gefallen sein muss, den urlaub auf teneriffa abzusagen! wir hatten den sommer in griechenland im april ja auch schon innerlich storniert, aber als dann die grenzen wieder aufgingen und wir eine möglichkeit sahen, kontaktfrei in den süden zu reisen, wollten wir’s versuchen. und es war richtig. 

gestern hab ich bei kostas (rechts im bild), dem besten und freundlichsten imker von lefkada, obszöne mengen honig gekauft. ich teile deine einschätzung, dass die kommenden monate ziemlich hart werden, da will man wenigstens einen schuss griechenland im tee haben. aber eigentlich wollte ich dir noch von jason und den argonauten erzählen. es ist nämlich so. der legende (also: ein paar internetseiten) zufolge, starteten jason seine reise auf der suche nach dem goldenen vlies im hafen von afissos, wo wir die ersten drei wochen unseres urlaubs verbracht haben. und nachdem ich schon kein griechisch spreche (bis auf danke, die rechnung, bitte und wir waren gerade scheißen und das schiff sinkt – eine redewendung, mit der sprecher große indifferenz zum ausdruck bringen), wollte ich mir wenigstens das mit den mythen genauer ansehen. bei wikipedia stieß ich auf folgende überlieferung: 

„Der Halbgott Pelias, Sohn des Poseidon und der sterblichen Tyro, verdrängte seinen Halbbruder Aison vom Thron von Iolkos und bemächtigte sich der Herrschaft über ganz Thessalien. Zu dieser Zeit befand sich Iason im Pilion-Gebirge, wo er von Cheiron erzogen wurde. Pelias erhielt von einem Orakel den Rat, sich vor dem in Acht zu nehmen, der nur einen Schuh trüge. Als Pelias zum Opfer für Poseidon einlud, kam Iason, um sein rechtmäßiges Erbe zu fordern. Auf dem Weg begegnete ihm an einem Fluss eine alte Frau (die verwandelte Hera). Diese bat den Helden, dass er ihr über den Fluss helfe. Beim Überqueren des Flusses verlor er einen Schuh im Schlamm. Pelias fragte nun Iason, wie er handeln würde, wenn er dieses Orakel erhalten hätte, und dieser antwortete, dass er die betroffene Person losschicken würde, um das Goldene Vlies zu holen, was Pelias auch tat.“

fertig? 

gut, dann jetzt scrollen. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

wie heißt der halbbruder von pelias?

ist tyro sterblich oder halbsterblich oder ist das eigentlich egal?

muss pelias sich in acht nehmen von einem, der einen, keinen oder zwei schuhe trägt? 

und was ist mit sandalen?

warum muss ausgerechnet jason das goldene vlies holen? und wozu? ist hera kalt? 

ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich kann mir das alles nicht merken. auch die griechischen buchstaben fallen mir nicht ganz leicht, ich hab das gefühl, dass ich jedes jahr von vorne anfange sie zu lernen. neue sätze kann ich nur als lautfolge im kopf behalten, die ich bei bedarf aufsage wie eine melodie. und immer habe ich angst, statt um die rechnung zu bitten durch eine redewendung meine große indifferenz zum ausdruck zu bringen. 

anderen quellen (also: internetseiten) zufolge hat jason im hafen von afissos übrigens nur frisches wasser getankt. naja. 

besitos

* karin