Die Himmelfahrt

Im Sommer 1994 wurde der kolumbianische Fußballnationalspieler Andrés Escobar nach einem Eigentor bei der WM auf dem Parkplatz eines Nachtclubs in Medellín erschossen. Am nächsten Morgen landete ich zum ersten Mal in Bogotá. Kolumbien galt damals als eines der gefährlichsten Länder der Welt. Der Krieg zwischen Regierung, Guerilla und Paramilitärs in der Provinz machte Reisen am Boden praktisch unmöglich, also flogen wir – von 2.600 Metern Andenhöhe ins modrige Dickicht des Amazonas, von der Pazifikküste, wo Kinder wie streunende Hunde über dunkelgraue Strände tobten, auf die Insel San Andrés in ihrem Meer aus sieben Farben Blau. Schließlich erreichten wir Cartagena de Indias. Es war sagengroßwunderhaft. Aber die Bilder steckten wie lose Dias im Karussell der Erinnerung, lückenhaft, ohne jeden Zusammenhang.

Heute, viele Jahre später, wütet die Gewalt noch immer in zahlreichen kolumbianischen Departamentos. Doch weite Teile des Landes gelten mittlerweile als sicher. Ich habe mir eine Karte ausgedruckt und die Regionen eingezeichnet, vor denen das Auswärtige Amt warnt. Ich habe mit Reiseveranstaltern, kolumbianischen Bekannten und Freunden gesprochen und noch mehr Flächen schraffiert. Aber wenn man lange genug fragt, stößt man immer auf jemanden, der das gesamte Unterfangen für viel zu gefährlich hält, also fuhr ich irgendwann los.

Von der Hauptstadt hinunter bis zum Río Magdalena und dann immer weiter, bis ans Meer. 1.300 Kilometer Kolumbien zu Land, zu Fluss und zu Schotterpisten .

Am Straßenrand flattert die kolumbianische Trikolore, doppelgelbblaurot.“Retén”, Checkpoint, steht auf einem Schild, ich nehme den Fuß vom Gaspedal. Es ist die dritte Straßenkontrolle, seit ich Bogotá vor ein paar Stunden verlassen habe. Am Himmel braut sich ein Gewitter zusammen, über dem eisernen Kopf von Simón Bolívar, der hier an der Brücke von Boyacá 1819 eine entscheidende Schlacht des Unabhängigkeitskriegs gegen die Spanier geschlagen hat. Die kühle Bergluft, die durch das Beifahrerfenster hereinströmt, riecht nach Regen.

Straßenkontrollen machen mich nervös. Weil man früher aus der Ferne nie genau wissen konnte, zu welcher Truppe die Männer in Uniform gehören. Bei ihrenpescas milagrosas fischte die Guerilla genau so nach Entführungsopfern. Der Mann, der an mein Fenster tritt, trägt allerdings Schwarz, und der Aufnäher auf seinem Hemd macht einen seriösen Eindruck. Sie sammelten für Kinder, die Landminen zum Opfer gefallen seien, sagt er, ich könne 40.000, 100.000 oder 400.000 Pesos spenden. Nur offenbar nicht nichts. Eigentlich ist das Nötigung. Egal, ich zahle trotzdem. Mit “Egal, ich zahle trotzdem” macht man selten viel falsch.

Hinter der Brücke zweigt die Straße ab nach Villa de Leyva. Kühe dösen auf stillgelegten Bahngleisen. Auf den Feldern stapeln Bauern Kartoffelsäcke zu Türmen, das Kind, das mir auf einem Pferd entgegengeritten kommt, ist noch keine sechs Jahre alt. Die Gegend hier sei immer ruhig gewesen, höre ich später, selbst Álvaro Uribe spaziere bei seinen Besuchen ohne Leibwächter durch die Gassen der Stadt. An diesem Nachmittag allerdings verlässt der Ex-Präsident Villa de Leyva hinter getönten Fensterscheiben in der Mitte einer Wagenkolonne. Vorne vier Autos, hinten vier Autos, aus den Fenstern ragen Maschinengewehrläufe. Er hat auf dem Campingplatz eine Rede gehalten. Nach zwei Amtszeiten als Staatsoberhaupt kandidiert Uribe gerade für die Kongresswahlen im März. Sein Motto, “Ja zum Frieden – aber Strafen für die Kriminellen”, richtet sich gegen die Friedensverhandlungen mit der Farc-Guerilla in Havanna. Den Paramilitärs gegenüber war er da als Präsident weit nachsichtiger. “In Tunja haben die Leute ihn mit Tomaten beworfen”, raunt mir eine alte Frau zu. Der hellblaue Mundschutz in ihrem Gesicht lässt nicht erkennen, wie sie das findet.

Lange Schatten wandern über das bucklige Pflaster auf der Plaza Mayor, einem riesigen Platz, gesäumt von Kneipen, Restaurants und niedrigen weißen Häusern mit Holzbalkonen. Hinter der Pfarrkirche thront ein braunkahles Bergmassiv, vor ihr versammeln sich die Fotografen zum Abendrot. Tatsächlich wirkt die Idylle so sedierend, dass der junge Polizist, der an einer Häuserecke lehnt, für jede umgefallene Pylone dankbar scheint, die ihm zu tun gibt.

Am nächsten Morgen übernehmen Schlaglöcher auf der Straße in Richtung San Gil das Aufwecken. Es geht jetzt langsam abwärts, und mit jedem Höhenmeter weniger werden die Berge grüner. Die Landschaft entwickelt sich. Palmen drängen zwischen die Laubbäume, die dunklen Kämme der Anden formieren sich zu Gruppenbildern im Dunst. An einem Stoppschild fällt direkt vor meinem Auto ein Aasgeier tot aus einem Baum. Einfach so. Plonk. Ich bin ein bisschen froh, dass es für diesen Vorfall keine Zeugen gibt. Der kolumbianische Roman kennt Mädchen, die in den Himmel fahren, junge Männer von großer Anmut, denen bei Spaziergängen Schmetterlinge folgen. Da möchte man nicht die sein, bei deren Anblick Vögel vom Fleck weg verenden.

Bei meiner Abreise in Bogotá hat mir der Tourveranstalter gesagt, es sei wichtig, die Etappenziele vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Ich bekam ein altes Mobiltelefon in die Hand, und man bat mich, jeden Abend nach meiner Ankunft Bescheid zu geben. Sicherheitshalber. Für den ersten Teil der Reise waren Strecken zwischen 150 und 180 Kilometern pro Tag vorgesehen, was ich für überschaubar hielt. Allerdings wusste ich da noch nicht, dass die Landstraße jeden Berg und jeden Hügel in liebevollen Kurven umschlingt. Geradeaus geht es so gut wie nie. Den Rest Entschleunigung besorgen Lkw.

Als ich am Abend Barichara erreiche, ist es bereits so dunkel, dass die Ladenlokale mit ihrem Licht die steilen Gassen erhellen. Es gibt den Schneider, den Hutmacher und die Lebensmittelhändler, die ihre Waren in meterhohen Regalen verstauen und über Tresen hinweg bedienen. Wer Mitgefühl hat und weiß, was Höhenangst ist, muss hoffen, dass sich die Nachfrage für das Toilettenpapier unter der Decke in Grenzen hält. Wahrscheinlich ist Barichara der schiefste Ort der Welt. Die ganze Stadt ist ein Rauf und Runter, ein absurdes, ein wunderbares Kreuz und Quer.

Über den Platz vor der Kathedrale weht eine warme, feuchte Brise. Bisher ist die Reise so friedlich verlaufen, dass ich das Gefühl habe, auch mal was riskieren zu müssen. Also kaufe ich mir eine Dose geröstete Flugameisen, die als lokale Delikatesse gelten, und zwei Bier zum Spülen. Ich setze mich auf eine krumme Steinbank, lausche den Gesängen der Abendmesse und trinke ein Bier erst mal nur so. Die Bank verlangt dem Sitzenden einiges an Andacht ab, schon weil man sonst hintenüberkippt. Als das zweite Bier alle ist, öffne ich die Dose, stecke mir eine Handvoll karamellbraunes Popcorn mit Beinen in den Mund, schließe die Augen und beiße zu. Die übrigen Ameisen lasse ich später auf dem Rasen frei.

Google Maps macht aus Landschaften ja keine große Sache. Curiti, Aratoca, Piedecuesta, Bucaramanga, eine lilafarbene Linie auf grauem Grund. Distancia aproximada: 150 km. Genauer habe ich mir die Strecke am Morgen nicht angesehen. Deshalb geschieht es mir recht, dass mich um die Mittagszeit hinter einer Bergkuppe der Schlag trifft, als sich hinter den Bäumen eine gigantische, weißgraue Schlucht auftut, der Cañón del Chicamocha. Ich parke an einem Aussichtscafé, das bunte Plastikstühle direkt am Abgrund arrangiert hat. Mein Blick stürzt hinab in den Graben, an dessen Hängen sich Sonne und Wolken die Zeit mit Schattenspielen vertreiben. Bis Nestor zwischen mich und das Panorama tritt.

Ihm gehöre das Haus weiter unten am Hang, sagt Nestor, während ich versuche, über seine rechte Schulter hinweg den Cañón zu sehen. Nestor erzählt von Ufo-Forschern, die vor ein paar Monaten bei ihm zu Besuch waren, weil hier angeblich regelmäßig Aliens landen. Nestor streift seine Kamera ab und zeigt mir Bilder von Sonnenaufgängen und Sonnenuntergängen, von verwackelten Vollmonden, die wie Fettflecken in der Bildmitte kleben, er zeigt mir Fotos von seinen Hunden, von seinen Hühnern und von seinem Haus, während mein Blick auf den Zähler seiner Speicherkarte fällt. Es sind mehr als 6.000 Fotos. Ich behaupte, es sei schön gewesen, ihn kennenzulernen, und lasse den Cañón die nächsten beiden Stunden lang von der Straße aus durch die Windschutzscheibe auf mich wirken.

Bucaramanga ist eine Stadt, von der man sagen muss, dass sie erst im Rückspiegel zu wahrer Größe findet. Noch einmal schraubt sich die Straße in die Höhe. Als ich hinter der letzten Mautstation aus dem Auto steige, schlagen mir die Tropen mit einer klitschnassen Faust ins Gesicht. Die Luft flirrt über der grünen Steppe. Und je näher es auf Barrancabermeja zugeht, desto dichter wird der Mopedschwarm auf der Landstraße.

Die Region Magdalena Medio ist Gabriel-García-Márquez-Land. Quer durch sie hindurch geht der Fluss, auf dem die Liebe in Zeiten der Cholera nach “dreiundfünfzig Jahren, sieben Monaten und elf Tagen und Nächten” zu ihrem Recht findet. Das ist die Dichtung, die Leser sehnsüchtig macht nach dieser Gegend. Zur Wahrheit gehört, dass das Gebiet lange Zeit umkämpft war, bis Paramilitärs die Macht übernahmen, die Bevölkerung über Jahrzehnte in Angst und Schrecken versetzten und Magdalena Medio für Besucher von der Landkarte radierten.

Ich werfe die Autotür ins Schloss. In Barrancabermeja werde ich den Wagen stehen lassen und auf dem Río Magdalena weiterreisen, weil das vielleicht nicht der bequemste, dafür aber der kürzeste Weg nach Mompox ist, meinem vorletzten Etappenziel. Die Sonne glitzert auf dem gewaltigen braunen Strom. Am Hafen verscheuchen die Händler Fliegen von den rosaroten Schuppen ihrer Fische. Die Rohre der Ölraffinerie leuchten, und auf dem Hotelparkplatz döst eine armlange Echse im Gras. Obwohl er mich die vergangenen Tage über beschützt hat, bin ich erleichtert, den Blechpanzer loszuwerden. In einer Apotheke kaufe ich Mückenspray und gehe früh schlafen.

Es ist noch stockfinster, als ich am Morgen meinen Koffer zum Hafen zerre. Irgendjemand wuchtet mein Gepäck auf das Bootsdach, irgendjemand weist mir einen Platz zu, der Motor sprotzelt im Wasser, irgendjemand reicht mir eine klamme, klebrige Schwimmweste. Dann schaukelt uns die chalupa, eine Art Minibus mit Bug, zurück in den Halbschlaf, aus dem ich erst beim nächsten Halt in San Pablo erwache. Passagiere steigen aus, Passagiere steigen zu. Vor dem Fenster auf dem Steg stehen nackte Beine in Flipflops neben Camouflagewaden in Springerstiefeln. Flugblätter werden verteilt. Eine Sondereinheit der Streitkräfte fordert die Bevölkerung auf, Erpressungsversuche den örtlichen Behörden zu melden.

Erst später erfahre ich, dass die Guerilla sich aus San Pablo nie ganz zurückgezogen hat. Und später noch, dass eine Reise auf dem Strom in entgegengesetzter Richtung nach wie vor sehr gefährlich wäre. Offiziell haben sich die paramilitärischen Autodefensas Unidas de Colombia (AUC) 2006 aufgelöst, doch geändert hat sich vor allem der Sprachgebrauch. Die Rede ist jetzt vonbandas criminales, die sich, ganz unbeschwert von ideologischem Ballast, dem Drogenhandel widmen. Trotzdem habe ich mich bisher kaum irgendwo so sicher gefühlt wie an Bord der schaukelnden chalupa, umgeben von schwitzenden Schultern, dem Singsang der Unterhaltungen und Passagieren, die ihre tablettgroßen Stryroporschachteln nach dem Essen über Bord werfen.

Die Frau, die sich in San Pablo neben mich setzt, duftet nach Seife und hat die Konturen ihres Mundes nachgezogen, ohne die Lippen auszumalen, was auf clowneske Weise freundlich wirkt. Auf der Bank neben uns schreit ein grüner Papagei im Käfig: “Lauf, lauf, lauf, sonst frisst dich die Katz, Katz, Katz!” Maria Elena erzählt von den Haustieren ihrer Freundinnen und lacht sehr viel dazu, während der lärmende Motor ihre Worte schreddert. Als wir an einer Bootstankstelle am Ufer anlegen, führt Maria Elena die Prozession der Damen zur Toilette an. Sie betritt die Kabine, kehrt auf dem Absatz um und erklärt: “Die ist zu schmutzig, wir halten ein.” Dann fahren wir weiter.

Ich weiß nicht, woran es liegt, dass sie besser zu verstehen ist, obwohl sie leiser spricht, während sie anfängt, über ihre kleine Tochter zu erzählen, die ihr die SMS auf dem Handy vorliest, weil Maria Elena nie lesen gelernt hat. Sie stammt aus einem Dorf im Departamento Bolívar, das an den Río Magdalena grenzt. Eines Tages, Mitte der Neunziger, kam die Guerilla und nahm ihnen das Vieh weg. Kurz darauf kamen die Paramilitärs, nahmen ihnen die Fahrzeuge und zerstörten, was sie nicht mitnehmen konnten. Später kehrte die Guerilla zurück und vertrieb die Bewohner, doch sie kamen wieder. Dann brannten Paramilitärs die Häuser nieder. Ich frage sie, wie das Dorf hieß. Maria Elena sagt: “Paraíso”. Der Fluss hat seinen Zauber verloren. Ein braunes Band, das kein Ende findet.

Man hatte mir gesagt, ich solle bei meiner Ankunft in El Banco nach einem Sammeltaxi suchen, um damit weiter nach Mompox zu fahren. Doch die Männer, die sich jetzt am Hafen um mein Gepäck streiten, fahren Motorräder. Ich deute auf den Koffer, den Rucksack, noch einen Rucksack und zwei Stofftaschen und gehe davon aus, dass die Angelegenheit damit erledigt ist. Aber da ist Eliseo längst damit beschäftigt, meinen Koffer mit einem dicken Gummischlauch auf seinem Gepäckträger festzuzurren. Den großen Rucksack zieht er vornüber. Am Ortsausgang nimmt uns eine blickdichte Staubwolke in Empfang, die uns die nächsten beiden Stunden über begleiten wird. Wir fahren über ungeteerte Buckelpisten, auf denen Steine von den Reifen spritzen, manchmal fliegen wir ein bisschen. Wir überholen weiße Kühe und schwarze Schweine, und die Blätter der Bananenbäume sind kandiert mit rotbrauner Erde. Zwischendurch platzt der Gummigurt, der Koffer rutscht. Wir rasten im Schatten, verknoten den Schlauch aufs Neue, sitzen auf und erreichen um die Mittagszeit den Ort, an dem ich vor zwanzig Jahren anzukommen hoffte, als ich zum ersten Mal nach Kolumbien reiste.

Oben, sehr weit oben, an der Decke des Speisesaals, kühlt ein Ventilator die Hitze im Raum auf Sommer. Darunter sitzen Gerardo und Rosalba und verfolgen gespannt, wie ich den Fisch zerteile, den ihr Koch gerade serviert hat. “Vielleicht mehr von der Seite”, sagt Gerardo. “Brauchst du Salz, mein Herz? Noch etwas zu trinken?”, fragt Rosalba. Ich bin ihr einziger Gast. Aber es fühlt sich an, als sei ich mit dem Sohn verheiratet, in dessen Auftrag die beiden Rentner das Hotel führen.

Draußen brütet die Sonne über den rostroten Dächern des Stadtzentrums. Türen und Fenster stehen offen hinter schmiedeeisernen Gittern. Von der Straße dringt das Knattern der Zweitaktmotoren in den Patio, wo pappsattes Grün Töpfe und Kübel sprengt. Für eine lange Weile präsentiert sich keine sinnvolle Alternative dazu, den Nachmittag in einer Hängematte wegzuschaukeln.

Als ich Gerardo frage, ob es hier immer schon so friedlich gewesen ist, nickt er strahlend. Das ist nicht die Wahrheit, selbst der Reiseführer behauptet das Gegenteil. Aber die Lüge ist sehr weiß und sehr kolumbianisch. Es gab Zeiten, in denen in Mompox die AUC das Gesetz waren. Doch wozu daran erinnern, wozu den Gast beunruhigen, wozu die hässlichen Geschichten?

Bevor der Abend hereinbricht, will ich noch zum Friedhof, der als einer der schönsten in ganz Lateinamerika gilt. Todesanzeigen jüngst Verstorbener, die an die weißen Kolonialbauten entlang der Hauptstraße tapeziert sind, weisen den Weg zu Engeln aus Stein, Mausoleen und Grabnischen. Und die Katzen, die ihrem Besitzer bis hierher gefolgt sind, rekeln sich auf warmen Grabsteinen aus dem 19. Jahrhundert.

Mompox war damals ein wichtiger Hafen, ein Handelszentrum auf einer Sumpfinsel mitten im Río Magdalena. Augustiner, Dominikaner, Franziskaner und Jesuiten ließen Klöster und Kirchen errichten, Konservative und Liberale teilten Norden und Süden des Stadtzentrums sauber untereinander auf, und die Feste, zu denen die wohlhabenden Bewohner in ihre Salons luden, müssen rauschend gewesen sein. Bis der Wasserspiegel des Flusses sank und die großen Schiffe ausblieben. Und das Vergessen über Mompox kam.

Auf diesem Grund der Zeit gehe ich am nächsten Morgen spazieren, am Flussufer, wo Baustellennetze den Blick auf das Wasser verhängen. Die Arbeiter grüßen formvollendet, alte Damen, die hinter den Gittern ihrer Wohnzimmerfenster lehnen, wünschen einen guten Morgen und erkundigen sich nach der Qualität der Nachtruhe. Die Luftfeuchtigkeit hat graue Stockblumen auf die Fassaden gemalt, Schlingpflanzen bringen das fahle Mauerwerk zum Bersten. Mompox stellt sich nicht aus, vielleicht weil ihm dafür das Publikum fehlt. Genau das ist sein Geheimnis.

Vom alten Zollhaus, das an der Plaza Real de la Concepción verfällt, dringt scheppernder Lärm bis zur Hauptstraße herüber. Vor der Ruine beschallt eine Lautsprecherbox Damen und Herren, die im Schatten Merengue tanzen. Auf die körperliche Ertüchtigung, ein Angebot für das dritte Lebensalter, folgt eine Meditation, zu der sich die Teilnehmer auf den Stufen niederlassen. Ich sehe zu, wie sie die Augen schließen. Ich höre sphärische Klänge und die Stimme der Trainerin, die sie auffordert, an ihre Lieben zu denken, an Menschen, die von ihnen gegangen sind, die sie verloren haben im Laufe ihres Lebens. Der Schmerz treibt Furchen in die Gesichter. Niemand weiß, woher die Esel kommen, die plötzlich aus der Ruine treten, wie eine Erscheinung. Sie schnauben den Zeitreisenden der Erinnerung sanft in den Nacken. Und schlendern dann herrenlos davon, Schulter an Schulter. Kein Mensch kann sich so was ausdenken.

In einem staubigen Dorf, auf dem Weg nach Cartagena, fuhren zwei Frauen auf einem Motorrad an mir vorbei, zwischen ihnen saß ein nacktes Kind. Ich bin fast sicher, dass es Flügel hatte.

im März 2014 erschienen in DIE ZEIT

 

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