Ingrid Betancourt ist die berühmteste Geisel kolumbianischer Rebellen.
Aber es sind Hunderte, die im Dschungel gefangen gehalten werden. Spurensuche in einem Land, das um Frieden betet
Viele Jahre später sollte Juan Carlos Lecompte sich an jenen fernen Morgen erinnern, an dem seine Frau die gemeinsame Wohnung verließ, um zu einer Kurzreise aufzubrechen. »Ich werde versuchen, noch heute Abend nach Hause zurückzukommen«, sagte sie. Ihre Silhouette brach das frühe Zwielicht des Schlafzimmers. Kurz darauf, am Nachmittag des 23. Februar 2002, wurde die kolumbianische Politikerin Ingrid Betancourt von Rebellen der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) entführt, am Rande der Landstraße zwischen Florencia und San Vicente del Caguán, im Südosten des Landes, wo im Winter die feuchtwarme Erde der Hügel die Luft mit Gerüchen von Fruchtbarkeit und Fäulnis tränkt.
Sein Haar hatte noch nicht die grauen Strähnen, die heute seine Schläfen streifen. Lecompte hielt sich im Hintergrund, und wenn man ihn damals, in den Tagen vor ihrer Entführung, auf den Fluren des Wahlkampfbüros fragte, was er von der Präsidentschaftskandidatur seiner Frau halte, antwortete er leise, beinahe unwillig, dass er Angst um sie habe, aber wisse, dass sie das Richtige tue. Das glaubt er immer noch. Aber er sagt es lauter, seit er für zwei sprechen muss.
Lecompte hat Staatsoberhäupter getroffen, Unterstützung beim Einsatz für das Leben seiner Frau gefordert, erbeten und erfleht, für ein humanitäres Abkommen zwischen Regierung und Rebellen, für die Freilassung aller 3200 Geiseln, die landesweit gefangen gehalten werden, von Guerillas, Paramilitärs und kriminellen Kleinbanden. Er hat die Kathedrale der Hauptstadt besetzt und den Präsidentenpalast mit Pferdedung beworfen, aus Flugzeugluken Tausende laminierter Flugblätter mit Bildern ihrer Kinder über dem Gebiet des Regenwalds verstreut, wo man die Entführten vermutet verborgen in Lagern unter dichten Baumkronen, die eine Ortung aus der Luft unmöglich machen.
Eine Landschaft, in der jede militärische Intervention das Leben der Entführten bedroht, weil die Guerilla eher tötet, als Gefangene ihrem Feind zu überlassen.
Bogotá funkelt unten im Tal wie ein gestürztes Firmament, während nächtliche Kälte durch bodentiefe Fensterfronten in sein Arbeitszimmer dringt. An der keksfarbenen Wolldecke, die er über die Schultern gezogen hat, kleben Hundehaare. Lecompte kämpft mit zwei Telefonen.
Seit zwei Stunden sind die Leitungen ins Studio von Radio Caracol besetzt. Sie sind belegt von Müttern und Vätern, von Brüdern und Schwestern, Tanten, Nichten und Neffen, die sonntags zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang ihren Angehörigen über die Sendung Las voces del secuestro, »Stimmen der Entführung«, Nachrichten übermitteln. Botschaften ohne hörbaren Widerhall. Sie handeln von Neugeborenen und Fußballergebnissen, von Treffen mit Freunden und Beerdigungen, von dem Glauben an Gott und dem Abgrund der Verzweiflung. Lecompte sagt, er möchte nicht darum bitten, dass ihn das Studio anruft. Er will keine Sonderbehandlung. Früher hat er manchmal Ingrids Hund ins Telefon bellen lassen, damit sie ihn hören kann. Vor zwei Jahren ist das Tier gestorben.
Hinter ihm, auf dem niedrigen Couchtisch, liegen Übersetzungen der Autobiografie, die Ingrid Betancourt im Ausland bekannt gemacht haben.
Die Wut in meinem Herzen, La rabia en mi corazón, die englische Ausgabe Until Death Do Us Apart. Ihr internationales Renommee sei ihre Lebensversicherung, hatte sie wenige Tage vor ihrer Entführung im Interview gesagt und dazu gelächelt, als sei sie es, die ihrem Gegenüber Mut machen müsse.
Inzwischen sieht es so aus, als habe ihr Ruhm geradewegs in den Todestrakt des Regenwalds geführt, in eine Zelle aus Blättern und Stacheldraht, wo die Folter aus langen Märschen, Seuchen und Mangelernährung besteht. Ihre berühmte franko-kolumbianische Geisel sichert den FARC die weltweite Aufmerksamkeit, die sie suchen, um dem Stigma des Terrorismus zu entkommen und Anerkennung als politischer Akteur im bewaffneten Konflikt zu finden. Doch die Lebenszeichen ihrer entkräfteten Gefangenen lassen an der Menschlichkeit der Rebellen zweifeln.
Mano fuerte, corazón grande harte Hand, großes Herz lautete der Slogan, mit dem der kolumbianische Präsident lvaro Uribe vor sechs Jahren zum ersten Mal die Wahlen für sich entschied. Die Bevölkerung, müde von drei Jahren fruchtloser Friedensverhandlungen seines Vorgängers Andrés Pastrana, wollte glauben, dass der Krieg, der seit Jahrzehnten zwischen Regierung, Guerilla und den Paramilitärs der Autodefensas Unidas de Colombia (AUC) tobt, militärisch entschieden werden kann. Aber auch die FARC glauben fest an die Möglichkeit ihres Siegs, eines fernen Tages.
Uribes Politik der »harten Hand« hat Erfolg, der vor allem in den Städten zu spüren ist. Seit einem Jahr gilt auch die Landstraße zwischen Bogotá und Medellín wieder als sicher, die früher Schauplatz der sogenannten pescas milagrosas war der »wunderbaren Fischzüge«, bei denen die Rebellen der FARC und des wesentlich kleineren Ejército de Liberación Nacional (ELN) wahllos Menschen aus Autos und Bussen entführten, um später Lösegeld zu fordern. Rund 700 Geiseln halten die FARC derzeit aus rein erpresserischen Gründen gefangen. 43 Menschen Politiker, Polizisten und Militärs sind für den Austausch gegen inhaftierte FARC-Rebellen vorgesehen. Der allerdings ist an Bedingungen geknüpft.
Wohlhabendere Städter kehren am Wochenende in ihre Landhäuser zurück, die sie jahrelang aus Furcht vor den Rebellen gemieden hatten. Die Zahl der Entführungen ist nach offiziellen Angaben von 3571 im Jahr 2000 auf 211 im vergangenen Jahr gesunken. Die Erleichterung muss groß gewesen sein. Zu groß, um sie vom Gedanken an die Geiseln, von denen einige seit fast zehn Jahren gefangen gehalten werden, trüben zu lassen. Lebenszeichen blieben aus, seit Pastrana im Februar 2002 die Verhandlungen mit den FARC abgebrochen und Streitkräfte in die Provinz Caquetá, eine ehemals entmilitarisierte Zone, geschickt hatte.
Die Vermittlungsbemühungen des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez zwischen Regierung und Guerilla haben dazu geführt, dass im vergangenen Dezember erstmals neue Videos und Briefe von Entführten öffentlich wurden, auch die stumme Sequenz der abgemagerten, ausgezehrten Ingrid Betancourt. Ihr Mann sagt, er sei am Abend beim Zappen im Fernsehen darauf gestoßen. Kein Sprecher hatte ihn auf die Bilder vorbereitet, keine Behörde über die neuen Lebenszeichen informiert.
Ingrids Mutter überreichte man eine unleserliche Kopie eines Briefs ihrer Tochter, in dem sie schreibt, sie sei nicht mehr sicher, ob diesem Leben des quälenden Wartens nicht der Tod vorzuziehen sei. In einer Botschaft des Obersts Luis Mendieta, gefangen seit neun Jahren und vier Monaten, heißt es: »Es ist nicht physischer Schmerz, der mich lähmt, sondern geistige Agonie, die Schlechtigkeit der Schlechten und die Gleichgültigkeit der Guten, als seien wir nichts wert, als existierten wir nicht.«
Es waren nicht die ersten Bilder. Man hätte wissen können, dass die Geiseln im Dschungel wie Tiere in Ketten gelegt werden, dass niemand die Strapazen der Gefangenschaft gesundheitlich unbeschadet übersteht.
Die geschundenen Körper dann aber erneut zu sehen, dazu die Klagen zu lesen, die von Erschöpfung und Mutlosigkeit handeln, das hat das Drama um die Entführten zurück in die Schlagzeilen gebracht.
Millionen gingen am 4. Februar in etlichen Städten des Landes auf die Straße, um gegen Entführungen, gegen Gewalt und Lügen zu demonstrieren. Und gegen die FARC. Es sollte ein unpolitischer Protest werden. Aber die Politik lässt sich nicht aus einem Konflikt heraushalten, dessen Ursachen tief in der Politik wurzeln. Wer für die Freilassung der Geiseln plädiert, muss die Frage beantworten, wie die Umstände dafür aussehen sollen.
Die FARC knüpfen seit Jahren eine zentrale Bedingung an einen möglichen Austausch: die Entmilitarisierung von 800 Quadratkilometern zwischen Florida und Pradera über einen Zeitraum von 40 Tagen für Verhandlungen. Ist das ein Zeichen der Bereitschaft zum Dialog? Oder nur der Versuch, eine Transportroute für den Drogenhandel zu kontrollieren? Der Präsident lehnt jeglichen Rückzug ab. Die Regierung werde einzig eine »Zone der Begegnung« akzeptieren, in einem kleineren Gebiet, das nicht eigens geräumt werden müsse. Und er beharrt auf der Option militärischer Befreiungsaktionen, zum Entsetzen der Angehörigen.
Die Maschine der Fuerzas Aereas mit europäischen Journalisten an Bord sinkt durch die Wolken, unter denen die Landebahn der Militärbasis von Larandia zwischen Palmen und Bananenstauden auftaucht, Sitz der Brigada Especial contra el Narcotráfico, der Spezialeinheit gegen den Drogenhandel. Wenige Kilometer sind es von hier bis zu jener Stelle, an der Ingrid Betancourt vor sechs Jahren entführt wurde. Auch die Landstraße zwischen der Provinzhauptstadt Florencia und San Vicente gilt inzwischen als sicher, aber in der Region ist die Guerilla immer noch aktiv. Niemand weiß, wie viele Menschen hier als FARC-Milizen arbeiten, Gegner und Deserteure denunzieren. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, aber die Untersuchungen sind mühsam. Einheimische meiden die Straße, wenn es dunkel wird.
Ein Oberst zeigt Fotos von sichergestellten Kokainpaketen
Im Schulungsraum informiert ein Oberst über den neuesten Stand des Krieges, der im offiziellen Sprachgebrauch keiner sein darf, weil die Bezeichnung die Guerilla zu Kombattanten erhebt. Man spricht von Aufstandsbekämpfung. Ein Beamer wirft Schaubilder an die Wand, Fotos von sichergestellten Kokainpaketen mit Gewichtsangaben, Daten und den Namen erfolgreicher Operationen, Bilder von Flugzeugen, die dicke, weiße Pestizidstreifen ausscheiden. Das Ausmaß der Nebenwirkungen ist umstritten. Seit einiger Zeit schickt die Regierung Arbeiter in die Koka-Felder, um die Pflanzen per Hand auszureißen. Immer wieder kommen dabei Menschen ums Leben, weil die Guerilla die Felder oft vermint, wenn sie sie verloren weiß. Die Statistik registriert sie nicht, zählt nur tote Soldaten.
»Die FARC haben keine Ideologie mehr«, erklärt der Oberst. » Ihre Basis ist der Drogenhandel, deswegen brechen wir ihnen das Rückgrat, indem wir ihnen die Finanzgrundlage entziehen.« Die Klimaanlage rauscht.
»Damit endet der Drogenhandel in Kolumbien, und damit enden auch die Probleme unseres Landes«, erklärt der Oberst. Als sei dieser Konflikt billig und berechenbar wie der Plot eines Groschenhefts. Aber so einfach ist es nicht. Kolumbien ist ein Roman, der von Verrat, Intrigen und Gewalt handelt. Und der kein Ende nehmen will.
Die Geschichte weist selbst über den 9. April 1948 hinaus, an dem in Bogotá der aussichtsreiche Präsidentschaftskandidat Jorge Eliécer Gaitán erschossen wurde. Das Attentat löste einen zehn Jahre andauernden Bürgerkrieg, die Violencia, aus, in dessen Verlauf rund 300000 Menschen getötet wurden. Was als Kampf zwischen Liberalen und Konservativen begann, weitete sich auf dem Land bald zum Verteilungskampf um Grund und Boden aus, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts schwelt.
Aus bäuerlichen Selbstverteidigungsgruppen kommunistischer Prägung gingen 1964 die FARC hervor. Oberschicht und Großgrundbesitzer brachten, lange Zeit staatlich geduldet, private Armeen gegen sie in Stellung, aus denen später die AUC entstanden.
Als sich die Parteien 1958 auf einen Friedensschluss, die sogenannte Frente Nacional, einigten, wurde die Macht zwischen Liberalen und Konservativen aufgeteilt. Präsidenten sollten jeweils abwechselnd gestellt, staatliche Ämter paritätisch besetzt werden. Demokratische Opposition wurde behindert, indem Kandidaten ausschließlich auf einer der beiden Parteilisten kandidieren konnten, was das Entstehen bewaffneter illegaler Gruppen erheblich begünstigte. Erst die Verfassung von 1991 beendete den dualen Ballwechsel der Eliten.
Eine zentrale Forderung der kolumbianischen Guerilla zielt seit je auf eine grundlegende Agrarreform für ein Land, in dem bis heute 1,3 Prozent der Bevölkerung über 48 Prozent des Bodens verfügen ein Ungleichgewicht, das im Laufe der achtziger Jahre durch den boomenden Drogenhandel zusätzlich verschärft wurde. Die oberste Rechnungsprüfungsbehörde Kolumbiens geht davon aus, dass etwa 40 Prozent der fruchtbaren Böden mit Gewinnen aus dem Narcotráfico finanziert worden sind. Statistisch nachweisen lässt sich, dass in diesen Gebieten die Gewalt deutlich zunimmt. Die vor allem von den Paramilitärs vertriebenen Kleinbauern haben schätzungsweise 4,8 Millionen Hektar Land zurücklassen müssen, die anschließend von Sympathisanten übernommen wurden.
Eine ganze Galerie von Präsidenten hat versucht, Frieden zu schaffen, mal am Verhandlungstisch, mal mit Waffengewalt. Und alle sind gescheitert. Zum Greifen nah schien eine Lösung zuletzt, als Teile der FARC und der kommunistischen Partei 1985 infolge eines Waffenstillstandsabkommens eine legale Partei, die Unión Patriótica (UP), gründeten, mit der Absicht, den bewaffneten Kampf zu beenden.
Innerhalb weniger Monate aber wurden mehr als 3000 UP-Mitglieder ermordet, zwei Präsidentschaftskandidaten, 8 Parlamentarier, 70 Abgeordnete, 13 Deputierte und elf Bürgermeister, von Todesschwadronen und Paramilitärs.
Überlebende flohen ins Exil. Über eine Beteiligung der Regierung an den Morden ist stets spekuliert worden. Es ist dieser historische Verrat, der den FARC bis heute als Schutzschild gegen moralische Empörung dient: Wo war der Aufschrei der Gesellschaft, als wir Frieden wollten und man uns massakriert hat?
»Wer einen Bauern umbringt, der fünf Söhne hat, schafft sich fünf Feinde«
Draußen vor dem Schulungsraum, im Regen von Larandia, hängt ein Bildschirm über den Plastikstühlen eines Kiosks, der Szenen eines Karatekampfs ohne Ton überträgt. Ventilatoren quirlen klebrige Luft.
Die blauschwarzen Flecken auf Albertos Wange, die aussehen wie tätowierte Tränen, stammen von einem Gewehr, das ihm vor dem Gesicht explodiert ist. Er weiß nicht mehr, wann. Die Zeit im Dschungel folgt einem eigenen Rhythmus.
Alberto ist 39 Jahre alt. Die knappe Hälfte seines Lebens hat er als Comandante der 40. Front bei den FARC verbracht, irgendwo in Caquetá.
Er sagt, er sei ohne Vater aufgewachsen. Von seiner Mutter weiß er, dass er Geschwister hat. Kennengelernt hat er sie nie. Man traut ihm, der mit gebeugten Schultern in einer dünnen Jeansjacke versinkt, nicht die feste Stimme zu, mit der er sagt, dass er die verlorenen Jahre bereue, aber nicht den Versuch, für sein Volk zu kämpfen, el pueblo.
»Ich wusste damals nichts mit mir anzufangen. Die Guerilleros haben gesagt, dass sie soziale Gerechtigkeit wollen, damit nicht nur die reichen Kinder eine Chance bekommen. Mir war Solidarität immer wichtig.« Dass er niemanden umgebracht habe, behauptet er. In 18 Jahren als Comandante? Er schüttelt den Kopf. Ein Soldat beobachtet ihn vom Nebentisch aus.
Vor fünf Monaten hat Alberto einen Botengang für die FARC nach San Vicente del Caguán genutzt, um sich zu stellen. Sechs Jahre lang habe er diese Flucht geplant. Er nimmt jetzt an einem Wiedereingliederungsprogramm in der Hauptstadt teil. Ins Dorf, wo er eine Freundin hat und eine gemeinsame Tochter, kann er nicht zurück.
Alberto sagt, dass er in Bogotá in einem schönen Haus wohne, einen Fernseher habe und 600000 Pesos im Monat bekomme, etwas mehr als 200 Euro. Dass er keine Angst davor habe, seine Genossen könnten kommen und ihn umbringen. Weil er sie für Feiglinge hält.
»Sie sagen immer: Man muss das Volk überzeugen von der guten Sache, aber das geht doch nur, wenn man auch Gutes tut. Wer einen Bauern umbringt, der fünf Söhne hat, schafft sich fünf Feinde, keine Anhänger.« Alberto sagt, er habe gesehen, wie die Rebellen Bauern bei lebendigem Leib begraben, die den FARC die Unterstützung verweigern.
Wie sie einem 16-jährigen Jungen die Augen ausstechen und ihn anschließend auf der Türschwelle seiner Mutter erschießen, um sie zu bestrafen. Alberto sagt, er bekomme kein Geld von der Regierung, um solche Dinge zu erzählen. Ohne dass man ihn danach gefragt hätte.
Er erinnert sich an den Nachmittag des 23. Februar 2002, an eine verschlüsselte Botschaft über Funk, in der es hieß, dass ein »Paket« über die Landstraße in Richtung San Vicente komme, die Chiffre für Entführte. Eine Woche später habe er im Radio erfahren, dass es um Ingrid Betancourt ging. » Sie hat sich geirrt«, sagt Alberto.
»Wahrscheinlich hat sie geglaubt, dass man bei ihr eine Ausnahme macht, weil sie sich für den Friedensdialog einsetzt«. In Bogotá zuckt er in der Innenstadt manchmal zusammen, wenn er ein lautes Geräusch hört, greift sich an die Hüfte, wo 18 Jahre lang seine Waffe saß. Er fühle sich von Feinden verfolgt, ständig, sagt Alberto. » Daran muss man sich gewöhnen.«
Yolanda Pulecio hat nicht viel Zeit. Sie fliegt morgen nach Rom, wo sie den Papst treffen und um ein Wunder bitten will. Die Freilassung ihrer Tochter Ingrid Betancourt. Tage später werden kolumbianische Medien berichten, Doña Yolanda habe außerdem das Wunder erbeten, dass sich die kolumbianische Regierung ändert – Yolanda Pulecio wird richtigstellen, sie habe das Wunder erbeten, dass die kolumbianische Regierung ihre Haltung im bewaffneten Konflikt ändert und sich um eine Verhandlungslösung mit den FARC bemüht. Und die Menschen in Kolumbien werden die Köpfe schütteln und sagen: Man versteht sie ja, als Mutter, aber dass sie dabei so unpatriotisch sein muss.
lvaro Uribe genießt Spitzenwerte der Sympathie innerhalb der Bevölkerung, vor allem seit den Verbalausfällen seines Amtskollegen Hugo Chávez, der Uribe nach seinem Ausschluss aus den Verhandlungen mit den FARC als »Knecht des Imperiums« und »Mafioso, gegen den Vito Corleone blass aussieht«, beschimpft hat. Das Meinungsforschungsinstitut Gallup bescheinigt dem kolumbianischen Präsidenten 81 Prozent Zustimmung. Seine Anhänger strengen bereits die nächste Verfassungsänderung an, die ihm eine dritte Amtszeit ermöglichen soll. Uribe selbst äußert sich nicht zu diesem Vorhaben.
Wie beim letzten Mal, ehe er zur Wiederwahl antrat.
Im Interview, wenige Tage vor ihrer Entführung, sagte Ingrid Betancourt: »Kolumbien ist ein sehr konservatives Land. Hier werden viele Dinge verschwiegen, weil eine Konfrontation als unhöflich empfunden wird. Wenn ich zu jemandem sage, Sie haben gestohlen, wird man mir nicht antworten: Beweisen Sie das! Man wird sagen: Sie sind aber unhöflich, wie können Sie etwas so Hässliches sagen?« Ihre Mutter Doña Yolanda, mehrfache Schönheitskönigin und als Politiker-Gattin jahrzehntelang Protagonistin der diplomatischen Bourgeoisie, sagt, dass sie bei Demonstrationen für die Freilassung der Entführten mehrfach beschimpft, beinahe geschlagen worden sei. Weil sie die »harte Hand« des Präsidenten kritisiert und fragt, was aus seinem Herzen geworden ist.
Sie öffnet die Tür zu ihrer Wohnung im Norden der Hauptstadt selbst, holt zwei Gläser Wasser aus der Küche, die sie auf Stoffservietten platziert und entschuldigt sich, weil sie die Getränke ohne Tablett serviert. Im Bücherregal verstellen Familienfotos den Blick auf die Titel, ihre ältere Tochter Astrid, Astrid und Enkel, Melanie und Lorenzo, Ingrids Kinder, Ingrid, immer wieder Ingrid, mit dem Vater, mit der Mutter, im Wahlkampf. Im Blumengesteck auf dem Couchtisch welken orangefarbene Lilien.
Chávez Mediation, sagt Doña Yolanda, sei von Uribe »sehr brüsk und respektlos« beendet worden. » Er hat diese Tür der Hoffnung, die Chávez uns geöffnet hat, einfach zugeschlagen. Und dann fährt er nach Europa und erzählt Dinge, die nicht wahr sind.« Ohnmacht muss schwer wiegen, wenn einem die Welt ein Leben lang zu Füßen lag.
Kolumbiens Präsident fährt eine doppelte Strategie. Während er sich im Ausland als verhandlungswilliger Staatsmann präsentiert, liegt ihm Kompromissbereitschaft in der Heimat fern. Die Zeitungen waren noch damit beschäftigt, seine gelungene Europa-Reise zu feiern, als der Präsident kurz nach seiner Rückkehr in Bogotá ankündigte, man werde die Guerilla einkreisen, um sie zu einer Verhandlungslösung zu zwingen ein absurder Plan. Niemand weiß, wo genau die Entführten gefangen gehalten werden, die Armee müsste ein Gebiet von der Größe der Schweiz umzingeln. Aber die Pose erfüllte ihren Zweck. Der Präsident als strenger Patriarch, der seine Finca fest im Griff hat.
»Was für ein Jammer«, sagt Doña Yolanda, »dass dieses Land den Krieg will.« Sie selbst sei fest davon überzeugt, dass eine Lösung für die Entführten nur mit Chávez Hilfe erreicht werden könne. Die allerdings lehnt Uribe mittlerweile rundheraus ab. Vermutlich hatte er gehofft, der Venezolaner würde die bolivarianischen Genossen der FARC dazu bewegen, von ihren Forderungen abzurücken, aber der Schuss ging nach hinten los. Nach der bedingungslosen Freilassung zweier Geiseln im Januar verlangte Chávez lautstark die Aufhebung des Terroristenstatus der Guerilla.
Natürlich handelt der venezolanische Präsident nicht allein aus Mitmenschlichkeit. Es geht um Prestige, Machtgewinn und die Ausweitung des eigenen Einflussbereichs in der Region. Dennoch ist Chávez der Einzige, dem es seit dem Abbruch der Friedensverhandlungen 2002 gelungen ist, die FARC zu Zugeständnissen zu bewegen. Vor wenigen Wochen hat die Guerilla die Freilassung von drei weiteren Geiseln angekündigt. Die Auslieferung soll über Chávez, nicht über die kolumbianische Regierung laufen. Doña Yolanda sagt, dass sie auf sich aufzupasst, um da zu sein, wenn ihre Tochter nach Hause kommt. Sie ist jetzt 70 Jahre alt. Ihr Mann starb vor sechs Jahren, wenige Wochen nach Ingrids Entführung.
Doña Robertina wartet auf ihren Sohn seit mehr als neun Jahren
Die Taxifahrt von Norden nach Süden dauert eine Dreiviertelstunde, wenn der Verkehr es zulässt, eine Reise quer durch gesellschaftliche Hierarchien, abwärts, vom Bürgertum zur unteren Mittel- und Unterschicht. Die Backsteinbauten ohne Putz geraten dieser Tage zum Labyrinth, die Häuser tragen keine Nummern. Es wird neu durchgezählt, sortiert, wo sich ansonsten nur begrenzt öffentlicher Wille zur Ordnung erkennen lässt. Robertina Sánchez de Murillo, 65, wartet an der Ecke vor ihrem Haus, vorm Kiosk im Erdgeschoss, mit dem sie ihre Rente aufbessert, eine kleine, rundliche Frau im gestreiften Strickpullover, die lächelt, wie es Großmütter in Bilderbüchern tun.
Doña Robertina hat vier Kinder großgezogen. Die Jüngste, Milena, lebt noch zu Hause, zwei Söhne sind ausgezogen. Enrique, der Älteste, wird von den FARC als Geisel gehalten, seit dem 1. November 1998.
Der Polizist wurde beim Angriff der Guerilla auf die kleine Provinzhauptstadt Mitú gefangen genommen, nahe der brasilianischen Grenze. 75 Polizisten kämpften gegen eine Übermacht von 1500 Guerilleros. Die Wehrdienstleistenden, die zur Verstärkung geschickt wurden, standen am Anfang ihrer Ausbildung und wussten nicht mit Waffen umzugehen. 17 Polizisten starben bei dem Angriff. Die Überlebenden wurden entführt, niedere Dienstränge später, bei einer Zeremonie in der entmilitarisierten Zone, freigelassen. Einem Polizisten, John Pinchao, gelang 2007 die Flucht der einzige bekannte Fall einer geglückten Selbstbefreiung aus dem Dschungel. Die fünf übrigen Geiseln des Überfalls von Mitú halten die FARC bis heute gefangen, seit neun Jahren und vier Monaten.
Als sie im Radio von den Gefechten hörte, habe sie nicht gewusst, wie sie es ihrem Mann beibringen solle, der an Herzproblemen leide, sagt Doña Robertina. Sie ging zur Messe, zweimal an jenem Morgen. Sie kochte, aß nichts. Sie fiel auf die Knie und betete zu Gott, dass er ihren Sohn schützen möge. Sechs Wochen dauerte die Ungewissheit.
Am 19. Dezember, William, ihr jüngster Sohn, sollte am Abend heiraten, klingelte das Telefon. » Enrique lebt«, wiederholt Doña Robertina die Auskunft, und Tränen schießen ihr in die Augen, ein einziges Mal im Laufe dieses Gesprächs, das sie später mit den Worten »Ja, Señora, das ist unser trauriges Leben« beenden wird. Erst bei der Polizei erfuhr sie von der Entführung. » Er hat uns einen Brief hinterlassen, in dem er schreibt, dass er auf einer langen Reise sei und nicht wisse, wann er zurückkomme. Er hat uns um Ruhe und Stärke gebeten und gesagt, dass er mit Gottes Hilfe bald zurückkommen werde.« Sie habe sich auf eine Zeit des Wartens eingestellt, sagt Doña Robertina. Auf drei, vier, sechs Monate. Sie spricht leise. Ihr Mann sitzt nebenan im Wohnzimmer.
Sie will nicht, dass er sich aufregt.
Doña Robertina kennt keine ausländischen Botschafter, die sie zum Mittagessen treffen, keine Politiker, die sie empfangen. Dienstags steht sie mit anderen Angehörigen im Schatten der Kathedrale, Frauen in strassbesetzten Jeans und billigen Turnschuhen. Sie trägt ein T-Shirt mit dem Bild ihres Sohnes, eines ewig 28-Jährigen in Uniform, an ihrer Brust, ruft im Chor die Parolen Richtung Regierungspalast: »Nein zur militärischen Befreiung, ja zum humanitären Abkommen«. Am letzten Montag des Monats lädt die Polizei die Angehörigen zu einem bunten Abend ein. Es gibt Ansprachen, eine Messe, Vorträge von Psychologen. Manchmal tritt eine Musikgruppe auf.
Viele Familien entführter Polizisten und Militärs fühlen sich als Opfer zweiter Klasse, weniger beachtet, weniger gehört als die Angehörigen der Politiker. » Vielleicht war es ein Fehler von Doña Yolanda, so viel Aufhebens um die Freilassung ihrer Tochter zu machen«, sagt Robertina Sánchez, »vielleicht war das schlecht für Ingrid, weil sie für die FARC auf diese Weise noch wichtiger wird und man sie nicht gehen lässt.« Ihr Sohn habe dem Vaterland gedient, sich in seinen Dienst gestellt. Ingrid Betancourt aber sie hätte die gefährliche Reise durch die Kampfzone doch gar nicht antreten müssen, damals. Doña Robertina schweigt einen Augenblick. Neid hallt in die Stille, ein Echo ihrer Worte. Als fühle sie sich beim Sündigen ertappt, sagt Doña Robertina: »Man weiß nicht, was richtig ist, man kann es nicht wissen.« Sie verabschiedet sich, an der Ecke vor ihrem Haus, und verschließt die Tür von innen.
Wo sich der Staat zurückzieht, übernehmen Gewaltakteure die Macht
Kolumbien gilt als eine der stabilsten Demokratien Lateinamerikas.
Doch die Schicht der verfassungsmäßig garantierten Rechte ist so dünn wie das Papier, auf dem sie geschrieben sind, weil der traditionell schwache Staat kaum in der Lage ist, sie flächendeckend durchzusetzen.
2001 blieb ein Viertel aller Gemeinden des Landes ohne jegliche Präsenz staatlicher Sicherheitskräfte. Die Justiz ist dem massenhaften Rechtsbruch nicht gewachsen, Richter werden bedroht oder bestochen, was zu einem hohen Maß an Straffreiheit führt. Eine Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass nur 31,5 Prozent aller Verbrechen überhaupt angezeigt werden. Gegen 2,8 Prozent der Täter wird ein Strafverfahren eröffnet, 1,7 Prozent werden verurteilt.
Wo der Staat sich zurückzieht, übernehmen illegale Gewaltakteure die Macht, etablieren Mikrodiktaturen nach eigenem Recht und Gesetz. Mit der Offensive des Plan Patriota ist Uribe zwar die Rückeroberung weiter Teile des kolumbianischen Territoriums gelungen. Die Kontrolle lässt sich allerdings nur durch erhebliche Militärpräsenz behaupten.
Unklar ist, ob die US-Unterstützung im Rahmen des Plan Colombia die Präsidentschaftswahlen in den USA unbeschadet überdauern wird. Sie ist zusammen mit dem aktuellen Wirtschaftswachstum die finanzielle Grundlage für den unter Uribe deutlich angeschwollenen Sicherheitsapparat. Die »harte Hand« mag Teilen der Bevölkerung eine Atempause verschaffen. Nachhaltig aber verändert sie nichts.
Im Hubschrauber, unterwegs von der Küstenstadt Cartagena zu den Montes de Mara, erklärt der Oberst, das Militär habe das Gebiet mittlerweile wieder fest unter Kontrolle. Über Jahre umkämpften Guerilla und Paramilitärs die grünen Hügel, wo der heutige Außenminister Fernando Araújo sechs Jahre lang von den FARC als Geisel gefangen gehalten wurde, ehe er am letzten Tag des Jahres 2006 bei einem Angriff auf das Guerilla-Lager fliehen konnte.
Die Menschen in der Kleinstadt Carmen de Bolívar, sagt der Oberst, seien sehr fröhlich und ausgelassen, sie seien bekannt für ihr Talent beim Komponieren volkstümlicher Weisen, herzlich und gastfreundlich.
Am Boden empfängt ein Konvoi von Mitgliedern einer Spezialeinheit der Streitkräfte die Journalistengruppe. Die Soldaten sitzen mit kugelsicheren Westen auf den Ladeflächen von Pickup-Trucks, stützen Maschinengewehre auf die Oberschenkel. Der Oberst sagt: Keine Sorge.
In Carmen de Bolívar bilden die Soldaten ein Spalier, das zu einer Kneipe führt, in der die Ausgelassenheit der Einwohner in Augenschein genommen werden soll. Nach einem Moment Saloon-Stille steht der erste Bauer von seinem Plastikstuhl auf, ruft über Billardtische in den Raum, dass er sich von der Regierung betrogen und allein gelassen fühle, eine Bierflasche schwenkend. Dass sie kein Geld für ihre Produkte erhielten, von dem, was der Boden an Gemüse hergebe, nicht leben könnten. Dass es ihnen schlecht gehe. Das Lächeln im Gesicht des Obersts gefriert. Die Gruppe wird aus der Bar geschubst, »wir müssen weiter, es gibt noch so viel anderes zu sehen«, zurück in den Bus, wo der Oberst ausführt, es sei in der Gegend zu einer Überproduktion von Mais gekommen. Die Regierung kümmere sich darum.
Unter Uribe ist eine neue Sprache enstanden, die Ursachen und Hintergründe des Konflikts durch neue Begriffe zu tilgen sucht. FARC und ELN werden unter dem gemeinsamen Rubrum Narco-Terroristas, Drogen-Terroristen, verhandelt, was nicht falsch ist, aber doch darüber hinwegtäuscht, dass sich das Präfix Narco in Kolumbien auf weite Teile der Gesellschaft anwenden lässt. Mindestens ebenso tief wie die Guerilla sind die Paramilitärs in den Drogenhandel verstrickt, die wiederum über beste Kontakte bis in höchste Regierungskreise verfügen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt derzeit gegen 79 von insgesamt 263 Parlamentariern wegen Nähe zur »Parapoløtica«.
Als Gouverneur der Provinz Antioquia hat Uribe den Aufbau paramilitärischer Gruppen unterstützt, die später in den Autodefensas Unidas de Colombia aufgingen. Folgerichtig hat der Präsident mit der »harten Hand« erheblich weiter gegen die Guerilla ausgeholt als gegen die Paramilitärs. Mit den AUC fand er 2006 sogar zu einem Friedensabkommen, dem nach Regierungsangaben 35000 Kämpfer folgten.
Seitdem berichten ihre Anführer in Gerichtsprozessen fast täglich von Massakern an der Zivilbevölkerung, von Vergewaltigungen, Zerstückelungen bei lebendigem Leib und Folterritualen, bei denen Novizen gezwungen wurden, das Blut Sterbender zu trinken, um sie abzuhärten. Tausende sind in den vergangenen Jahren verschwunden, vor allem in den ländlichen Gebieten, in namenlosen Massengräbern.
Die angeblich befriedeten Paramilitärs schließen sich unterdessen zu neuen Gruppen zusammen, nun allerdings unter der amtlichen Bezeichnung bandas criminales. Das Militär hat sich auf diese Weise begrifflich von der Verwandtschaft mit den Paras reingewaschen, die in der Vergangenheit meist auf die Komplizenschaft der Sicherheitskräfte zählen konnten. Es ist ein Frieden, der den Namen nicht verdient.
Die Absätze versinken im Teppich, der vom Empfangsraum ins Büro des Außenministers führt. Fernando Araújo wartet am Ende des Flurs, unter einem Gemälde des lateinamerikanischen Unabhängigkeitshelden Simón Boløvar, dessen Erbe seit seinem Tod so divers reklamiert worden ist, dass er inzwischen dem Magischen Realismus näher zu stehen scheint als einem politischen Programm. Fotos vom Januar 2007 zeigten Araújo nach seiner Flucht, mit verschrammter Stirn und den fiebrigen Augen eines Schiffbrüchigen. In seinem Gesicht sind nur die Spuren einer jugendlichen Akne zurückgeblieben. Mit festem Händedruck präsentiert der Minister das zahnreihenbreite Strahlen eines argentinischen Tangosängers.
Der Staat dürfe sich nicht dem Verbrechen beugen, sagt der Minister
Die Lebenszeichen der Entführten habe er nicht ansehen wollen, sagt er, »weil das für mich immer noch schmerzhaft ist«. Er habe während seiner Gefangenschaft viel Solidarität, Freundschaft und Liebe von seiner Familie erfahren, auch später, in Freiheit. Araújo erzählt nicht von seiner jungen Frau, die zwei Jahre nach seiner Entführung einen anderen heiratete, weil sie sich ein Kind wünschte und nicht ewig warten wollte.
Er habe Verständnis für die Sorge der Angehörigen in Anbetracht militärischer Befreiungsaktionen, »die Guerilla hat eine Killer-Haltung, es macht ihnen nichts aus zu morden«, aber es sei die Aufgabe des Staates, Werte zu schützen, Institutionen, Prinzipien, 43 Millionen Kolumbianer.
»Und wie weit geht die Staatsräson? Wenn die FARC nicht auf die Bedingungen der Regierung eingehen, lässt man die Geiseln sterben?«
»Das wäre die Schuld der FARC. Wir können uns nicht dem Druck von Verbrechern beugen.«
Ob er nicht einfach sehr viel Glück gehabt habe, weil er im Moment, als die Hubschrauber kamen, nicht in Ketten lag? » Ich war nur während der ersten sieben Monate meiner Entführung angekettet«, sagt Araújo, »die übrigen fünfeinhalb Jahre nicht mehr.« Er sagt »nur«, tatsächlich.
Kurz nach zwei Uhr früh hört Juan Carlos Lecompte ein Freizeichen. Er hat den Pullover ausgezogen, sitzt im T-Shirt in der Kälte und sagt, dass er nicht fassen könne, seit sechs Jahren auf diese Weise mit seiner Frau kommunizieren zu müssen. Lecompte hat ein Buch geschrieben über seine Suche nach ihr. Die französische Ausgabe wurde 30000-mal verkauft, die kolumbianische kam auf 3000 Exemplare. Er macht Notizen auf einem Blatt Papier, um festzuhalten, was er sagen will. Er rufe selten bei Las voces del secuestro an, sagt Lecompte, weil ihn die Telefonate aufwühlten und er hinterher stundenlang nicht schlafen könne. Mit dem Hörer in der Hand sitzt er auf dem Boden, zusammengesunken im Schneidersitz, schüttelt den Stift, als könnten Worte daraus spritzen, schüttelt den Kopf, ungeduldig, während das Radio die Stimme von Ingrid Betancourts Tochter Melanie aus New York überträgt, die ihre Mutter, »meine schöne Mami«, beschwört, dass sie durchhalten, essen, auf sich aufpassen müsse, dass es nicht mehr lange dauern werde, bis sie einander wiedersehen. Dann kündigt die Moderatorin die nächste Nachricht an.
Lecompte räuspert sich. » Verzeih mir, Nini, dass ich nicht öfter anrufe, aber es fällt mir so unglaublich schwer.« Er spricht atemlos, schaukelt im Schneidersitz wie ein aufgeregtes Kind. » Mach dir keine Sorgen um uns, es geht uns gut, unsere Wohnung ist genau so geblieben, wie du sie verlassen hast, ich ändere nichts, damit du dich zurechtfindest, wenn du wiederkommst.« Sein Herzschlag teilt die Sätze in hektisch gepresste Phasen. » Nächste Woche fahre ich nach Spanien, um mit Journalisten zu sprechen, wegen der Entführten. Ich bin sicher, dass wir uns bald wiedersehen werden, dieses Jahr noch, 2008.« Wie oft hat er diesen Satz gesagt, in den Nächten zwischen Samstag und Sonntag? » Lass deinen Körper im Dschungel, befreie deine Seele und komm zu mir heute Nacht, mein Schatz. Lass uns zusammen schlafen gehen. Ich liebe dich, ich trage dich in meinem Herzen, immer. Wir warten auf dich, mein Liebling. Danke, Caracol.« Musik.
2006 gaben insgesamt 20,4 Millionen US-Bürger bei einer Befragung der Regierung an, innerhalb der vergangenen 30 Tage illegale Drogen konsumiert zu haben. Die Vereinigten Staaten sind der größte Markt für kolumbianisches Rauschgift. Rund 500000 kolumbianische Bauern leben vom Koka-Anbau, knapp eine Million Familien sind an der Weiterverarbeitung beteiligt. Die Illegalität treibt die Gewinnmargen in die Höhe.
Solange der Krieg gegen den internationalen Drogenhandel in einem Land geführt wird, das am äußersten Rand westlicher Wahrnehmung rangiert, so lange wird das Morden in Kolumbien kein Ende nehmen. Solange Bauern, die kleinen Handlanger des Drogenhandels auf den Feldern, keine Alternative finden, um ein Leben in Würde zu führen, so lange werden sie bereit sein, den Rohstoff für den Handel zu produzieren und diejenige Kriegspartei unterstützen, die ihnen dabei Schutz verspricht.
Solange Kolumbiens Präsidenten abwechselnd mit der Seite verhandeln, die ihnen näher steht, um die andere Seite dadurch noch tiefer in den Widerstand zu treiben, so lange wird es Geiseln geben, die in der Tagundnachtgleiche des Regenwalds in Ketten liegen und auf Nachricht warten. Es gibt keine Alternative zu Verhandlungen. Weil die zu Jahren der Einsamkeit Verurteilten eine zweite Chance auf Erden verdienen.