allerseelen

Gestatten Sie, Don Luis, dass ich mich zu Ihnen setze? Es ist heiß geworden unter der Mittagssonne. Ihr Platz im Schatten dieses Baumes am Rande der Friedhofsmauer verspricht Linderung. Ich will mich bemühen, das Blütenarrangement auf Ihrem Grabstein nicht in Unordnung zu bringen, Señor, ein gelbes Kreuz unter der knappen Inschrift: »Luis San Miguel Galicia, 25 de junio 1987«.

Am 2. November, Allerseelen, begehen in Mexiko aztekische Tradition und katholischer Glauben ein gemeinsames Ritual. Tagelang feiert ein Land die tröstliche Vorstellung, dass die Toten zurückkehren, um ihre Familien zu besuchen. Den prähispanischen Gesellschaften mit ihren janusköpfigen Gottheiten galt das Sterben nur als Zwischenstation im Kreislauf des Seins. Weder Azteken noch Maya unterschieden zwischen Himmel und Hölle. Über die Zukunft der Seelen entschied allein die Art des Sterbens als Krieger, als Mutter im Kindbett, als Kranker.

In den Schaufenstern, auf den Straßen und in Wohnzimmern biegen sich die Altäre, ofrendas, unter dem Gewicht der Gaben: süßliches Totenbrot, pan de muertos, bunte Blumenbilder und Skelette aus Pappmaché. An den Wänden hängen Papiergirlanden. In der vitalen Vielfarbigkeit des Fests, der Zärtlichkeit, die aus der diminutiven Ansprache der muertitos, der Verstorbenchen, spricht, im Akt, dem Schmerz eine Feier der Erinnerung und Zusammengehörigkeit abzuringen, liegt ein beeindruckender Trotz gegen die Vergänglichkeit. Die Lebenden schenken einander Totenköpfe aus Zuckerguss, die den Namen des Beschenkten auf der Stirn tragen.

Wer hat das Kreuz auf Ihrem Grab geformt, Don Luis? Waren es Ihre Söhne? War es Ihre Witwe, die nun bald im zwanzigsten Jahr ohne Sie sein muss? Lehnen wir uns zurück, beobachten wir, wie sich der Friedhof mit Menschen füllt, die die Gräber ihrer Familien für den Abschied herrichten.

Mixquic ist ein Kaff, eine Autostunde entfernt von der Hauptstadt, aber einmal im Jahr läuft es ihr den Rang ab. Tausende kommen nach Mixquic am Tag der Toten, weil der mexikanischste aller Feiertage hier besonders lebhaft begangen wird. Fremde auf der Suche nach dem folkloristischen Erlebnis, Einheimische auf der Suche nach einer abgefahrenen Party, Anwohner, die ihren verstorbenen Angehörigen Gesellschaft leisten bei ihrem kurzen Besuch auf Erden.

Männer formen feuchte Blütenmassen zu Kreuzen, Tauben und Herzen

Die meisten von ihnen bleiben die ganze Nacht lang, sitzen auf Klappstühlen neben den Gräbern, reden mit ihren Kindern und Enkelkindern über das Leben und die Toten. Sie trinken Tee aus Thermoskannen, essen einen mitgebrachten Imbiss oder Zuckerwatte, die blau und pink die säulenhohen Paletten der zwischen den Gräbern umherlaufenden Verkäufer krönt. Die Hauptstraße zum Friedhof ist gesäumt von Verkaufsständen, an denen T-Shirts mit der Aufschrift »Mixquic 2005« baumeln, geflochtene Stroh-Soldaten, Stroh-Mariachis, ein Stroh-Christus am Kreuz. Auf den gezuckerten Schädeln der Totenköpfe sammeln sich die Fliegen. Vor dem Friedhofsportal verkaufen alte Frauen mit grauen Zöpfen laternendicke Sträuße, weiße Kinderblumen, die brombeerfarbenen samtigen Fächer der Terciopelos, rote Gladiolen und winzige Blüten wie Schleierkraut, die den Namen der Wolken, nubes, tragen. Entlang dem Weg zur kleinen Kirche, auf dem die Schritte knirschen, schrubben Männer Grabsteine, legen gelbe Kelchgirlanden um die Namen der Verstorbenen, formen die feuchte Blütenmasse zu Kreuzen, Tauben und Herzen.

Kennen Sie den Friedhof von Mixquic, Don Luis? Aus einer Zeit, als Sie noch am Leben waren, ein Körper in der Masse, die sich immer dichter durch das Eingangsportal drängt? Haben Sie Fremde eingeladen zum Plausch auf den Steinen Ihrer Ahnen oder darauf geachtet, dass kein Tourist durch Unachtsamkeit auf Ihre Ruhestätte tritt?

Hinter der Kirche von Mixquic öffnet sich ein großes Gräberfeld ohne Gehwege. Schmale, fußbreite Trampelpfade trennen die Ruhestätten. Einige sind durch schlichte Platten gekennzeichnet, in die Namen und Sinnsprüche geritzt wurden, als der Zement noch feucht war. Andere sind bedeckt mit Fliesen in Badezimmerfarben, Türkis, Rosa und Rot. Kreuze, Schreine, Altäre, die Schutzheilige La Virgen de Guadalupe und namenlose Engel erheben sich auf den Gräbern, hinter weißen Schutzgittern wie Himmelbettgestelle. Der Boden ist ausgetrocknet und staubig. Blumengebinde stecken in Plastikeimern und leeren Blechdosen: Milchpulver, Nesquik, Nido-Kinder. In manchen Gräbern liegen sieben bis acht Särge übereinander, weil der Platz eng geworden ist.

Ein Kind mit dreckverkrusteten Fingern und kurzen Zähnen läuft zum Komposthaufen unter dem Baum hinter Don Luis Grab, bleibt auf dem Rückweg stehen, lächelt schüchtern und knetet sein kariertes Hemd. Juan José ist sieben Jahre alt. Er kommt, um seine Großeltern zu besuchen.

Sag, Juan José, magst du den Tag der Toten?

Ja.

Warum?

Der Junge zuckt die Schultern. Hinter seinem Rücken zittern knallbunt gefärbte Gräser im Wind. Dann sagt er:

Ich weiß: wegen der Süßigkeiten.

Horden von Kindern ziehen über den Friedhof, bewaffnet mit Plastikkürbissen, in denen Bonbons, Kugelschreiber und Münzen scheppern. El día de muertos meets Halloween.

Am Nachmittag trägt ein Lautsprecher den Text der ersten Messe über das Gräberfeld, während ein mexikanischer Totentanz vorüberzieht. Symbolfiguren der Geschichte: ein Priester, eine Braut, ein Azteke, ein Revolutionär, alle mit geschminkten Gesichtern, in denen schwarze Farbe vor der Zeit das Fleisch vom Knochen zu schälen scheint. Sie drehen mehrere Runden über den Friedhof. Ein Mann hinter der Mauer ruft: »Hey, Tod, schau mal hier rüber.« Auf dem Dach der Kirche dreht ein Kamerateam. Drehorgelmelodien leiern durch das Stimmengewirr. Dann fallen die Mariachis ein. Vor dem Friedhof hat sich längst eine Schlange gebildet. Leute, die mit Digicams und Foto-Handys zwischen den Gräbern herumstolpern, wahllos in alle Richtungen haltend. Ein Hauch von Kleingartenausstellung weht über die Anlage.

Einen Tequila, Don Luis? Gewiss, es ist nicht gestattet. Über dem Friedhofsportal untersagt ein Transparent den Alkoholkonsum ebenso wie die Mitnahme von Fahrrädern oder Feuerwerkskörpern. Aber wer es mit dem Gesetz der Vergänglichkeit aufnimmt, wird keinen irdischen Richter mehr fürchten.

Ein Mann mittleren Alters, nicht ganz fest auf den Beinen, torkelt auf das Grab von Don Luis zu.

Wie heißt du?

Johnnie Walker.

Und als was arbeitest du?

Ich bin ein Idiot.

Das ist er nicht. Er redet von Kafka und von Nietzsche, von Coca-Cola und der Scheißglobalisierung. »Wir machen das hier in Mixquic jedes Jahr, seit Ewigkeiten, und wir werden es wieder tun, nächstes Jahr, immer wieder. Warum bist du hier? Warum bist du nicht in Chiapas? Ich sag dir, warum: weil es da kein Geld zu holen gibt. Für Bush, Blair, die ganzen Schweine.« Er nimmt einen Schluck aus einer Flasche. »Hier, trink davon, das ist wenigstens nicht von den Gringos.«

»Ich würde gerne in die Nähe von Puebla gehen«, sagt Johnnie Walker. »Da hat man einen wunderbaren Blick, und der Friedhof ist auch viel besser als der hier, da würde ich mich sofort hinlegen.« Ein Freund fasst ihn an der Schulter, entschuldigt sich für Johnnie Walkers Zustand und zieht ihn mit sich.

Das Blumenkreuz auf Don Luis Grab hat die Form eines Pfeils angenommen, seit Guillermo, zehn, und Luis, acht, es sich zur sportlichen Herausforderung gemacht haben, von der Friedhofsmauer auf den Grabstein zu springen. Ihre Turnschuhe hinterlassen gelbe Streifen auf dem dunklen Stein. Guillermo ist Luis Onkel, weil Luis Mutter Guillermos Schwester ist. »Na komm, so schwer ist das doch nicht zu verstehen.«

Luis erzählt, dass sein Vater früher getrunken und ihn geschlagen hat. Jetzt ist er trocken. Er arbeitet hinten am Grab, dem Grab von Luis Opa. Guillermo sagt, dass sein Bruder auch trinkt und manchmal, wenn er zu viel hat, draußen auf dem Feld auf Bäume drischt, bis ihm die Haut in Fetzen von den Knöcheln hängt, und dass er, Guillermo, dann Angst hat.

Eine zum Skelett geschminkte Dame läuft vorüber. Sie winkt

Schelten Sie die Jungen nicht, Don Luis. Sie sind noch Kinder. Und sie haben mir von ihren Süßigkeiten abgegeben. Lutscher. Und einen Kugelschreiber, weil meiner kaputt gegangen ist. Es sind die Verhältnisse, Don Luis.

Luciano Peña Chávez hat sich mit seiner Familie am Grab seines Großvater eingefunden, neben unserem Schattenplatz. Lucianos Mutter, eine Frau von Mitte 70 mit einem schwarzgrauen geflochtenen Dutt, sitzt auf einem Klapphocker neben dem Grabstein. Jetzt, nachdem es dunkel geworden ist, kümmert sie sich um die Kerzen und den Weihrauch, der in einer Schale flammt, ehe er glüht und zu rauchen beginnt. Dicke Schwaden wabern über die Anlage. Manche Besucher tragen einen Mundschutz gegen den beißenden, süßlichen Geruch. Lautsprecher übertragen aus dem Innern der Kirche die Gesänge eines Chors, der sich mit den Drehorgeltönen und Beats von der Festmeile vor dem Friedhofseingang mischt. Das Grab der Familie Peña ist mit rosafarbenen Fliesen gekachelt, von denen aufgedruckte Wassertropfen perlen. Die Verwandtschaft hat im Laufe des Tages fünf Blumenkübel hinterlassen.

Der Großvater war 107 Jahre alt, als er starb. Lucianos Mutter ist seine Schwiegertochter. Osvaldo, Lucianos Sohn, ist acht Jahre alt. Um den Hals trägt er einen Totenkopf aus Plastik, dessen Augen rot blinken. Er gibt nervtötende Signaltöne von sich, wenn man auf die Augen drückt. Auf der Friedhofsmauer läuft eine zum Skelett geschminkte Dame vorüber. Sie winkt. Osvaldos großer Bruder sagt: »Sie meint dich.« Osvaldo sagt: »Dich aber auch.« Sie hauen sich gegenseitig auf den Kopf, ehe sie sich in die Arme schließen. Dann fühlen sie sich reihum den Bizeps, mit ihrem Vater.

Sehen Sie nur, Don Luis, von dieser Höhe, auf Ihrem Grabstein sitzend, erscheint der Friedhof wie ein Meer aus Blumen, Köpfen und Rauchschwaden im gelben Licht der Kerzen. Die Umrisse des Kirchenschiffs sind mit Lichterketten nachgezeichnet. Angehörige hocken auf Gräbern und um die Gräber herum, suchen nach Gesprächsstoff, während dort drüben Menschen in fester Umarmung versunken stehen, ein kleiner Junge Blüten von einem Grab klaubt und über die Lautsprecher das Vaterunser schallt. Zwei alte Frauen mit zerfurchten Gesichtern haben ihre Tücher bis zur Nase hochgeschlagen. Bald wird man ihren Besuch auf Erden feiern. Eine von ihnen sagt: »Nein, meine Mama ist hier drüben, ich gehe kurz mal bei ihr vorbei.«

Osvaldos Cousine Paula kichert, als sie die Stimme des Priesters erkennt. »Das ist mein Freund Juan. Er sagt die Worte schön, weil es die Worte des Herrn sind. Damit du sie dir besser merken kannst.« Aus dem weichen Wachs der Kerzen formen die Kinder Kügelchen, mit denen sie auf den Namensrillen der Grabsteine Murmeln spielen. Hinter unserem Rücken, an der Mauer, kommt es zu Rangeleien zwischen Besuchern und Sicherheitskräften, weil sich der Komposthaufen hervorragend als Sprungmatte eignet, wodurch das mühselige Anstehen am Haupteingang entfällt. Nicht Meilen, sondern Welten trennen diesen Ort von den tristen Allerseelenritualen Europas, mit fahlen Erikas und roten Grablichtern, die im Herbstwind und Regen verlöschen.

Gegen neun am Abend werden die Angehörigen schläfrig. Ein Mütterchen auf einem Kinderschemel, eingehüllt in eine Decke, die nur Augen und Stirn frei lässt, sinkt immer tiefer in die Wolle, bis nur noch ihr Scheitel zu sehen ist. Luciano zerdrückt eine Spinne, die über die Kacheln auf dem Grab seines Großvaters läuft.

Und? Ist es wahr, dass die Toten zurückkommen? Oder nur ein alter Volksglaube?

Luciano sieht auf.

Natürlich ist es wahr. Die Toten kommen zurück. Man kann sie spüren. Und heute Nacht fahren sie zurück in den Himmel.

Die Blumen bleiben noch acht Tage auf den Gräbern stehen. Familie Peña bricht auf. Luciano muss morgen früh raus.

Grüßen Sie bitte die Familie Galicia von mir.

Wen?

Die Verwandten von Don Luis San Miguel Galicia, verstorben im Juni 1987. Er liegt im Grab neben Ihrem Großvater.

Ach so. Den gibt es nicht. Das ist ein Fantasiename. Die Leute, denen das Grab gehört, wollten sich den Platz nur für sich reservieren.

Scheiße, Don Luis, es war wundervoll mit Ihnen, trotzdem.

im November 2006 erschienen in DIE ZEIT

 

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