In Ciudad Juárez kündigt die Mafia Polizistenmorde auf Plakaten an.
Ein Frontbesuch im mexikanischen Drogenkrieg
Wie viele Linien Kokain braucht es, um die Party vom Freitagabend auf 27 Stunden Länge zu strecken? Wieviel Kilo Rauschgift schafft man innerhalb von 27 Stunden über den Rio Grande, nach Norden, über die Grenze in die Vereinigten Staaten? Fragen, die ohne Antwort bleiben. Fest steht in Ciudad Juárez nur die Zahl der Toten. 25 Menschen sterben in dieser Nacht und an diesem Tag in der Grenzstadt, die als Kapitale des Drogenhandels zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten gilt. 25 Morde in 27 Stunden.
Als Jaime Torres am Samstagmorgen sein Büro betritt, imitiert sein Kollege mit dem Unterarm den Lauf eines Maschinengewehrs. »Heute früh waren es fünf«, sagt er. Torres, Pressesprecher der Stadtverwaltung, schüttelt den Kopf, reibt sich die Schläfen. Er lächelt müde, wie es Menschen tun, die gezwungen sind, den Ausnahmezustand als Alltag hinzunehmen.
Torres war Journalist, ehe er Pressesprecher wurde. Ab und zu macht er noch kleine Fernsehbeiträge, kulturelle Themen aus dem benachbarten Texas, nichts Politisches. Seit ein paar Jahren lebt er mit seiner Familie auf der anderen Seite des Rio Grande in El Paso, pendelt zum Arbeiten nach Mexiko. Mit der Kriminalität, behauptet er, habe das nichts zu tun. Glauben mag ihm das keiner.
In den Augen der Bevölkerung verliert Mexiko den Krieg gegen die Mafia
Vor einem Jahr tauchte in Ciudad Juárez die erste narcomanta auf, eine Todesliste der Drogenmafia mit Namen von Polizisten. Jemand hatte sie am Denkmal für im Dienst gefallene Beamte abgelegt. Sie sei von Hand geschrieben worden, sagt Torres, groß wie das gerahmte Landeswappen an der Wand seines fensterlosen Büros. Die zweite Liste war unterschrieben mit dem Satz »Vielen Dank für Ihre Geduld« – Worte, aus denen der Hohn derer spricht, die keine Strafe fürchten müssen. Die Aufklärungsrate von Verbrechen liegt in Mexiko bei etwa einem Prozent. Inzwischen lässt die Mafia ihre Todeslisten auf Planen drucken, hängt sie weithin sichtbar an Brückengeländer. Von 40 Polizisten auf den Listen sind inzwischen etwa 20 ermordet worden. »Die übrigen«, sagt Torres, »sind im Ruhestand oder vom Dienst suspendiert.« Handelt es sich bei den Morden um Racheakte? Oder um Abrechnungen im Drogenmilieu mit Staatsangestellten, die auf den Gehaltslisten der Kartelle standen? Torres hebt die Augenbrauen und schweigt. Plata o plomo, Geld oder Blei, sich bestechen oder begraben lassen – das ist die Nachricht der Mafia an die Polizei. Um die Korruption einzudämmen, müssen sich die Beamten von Ciudad Juárez jetzt einem exámen de confianza, einer Vertrauensprüfung unterziehen. Fast ein Drittel der 1550 städtischen Polizisten, so die Prognosen, werden den Test nicht bestehen und aus dem Dienst scheiden.
Seit Präsident Felipe Calderón bei seinem Amtsantritt im Dezember 2006 den mexikanischen Drogenkartellen den Krieg erklärt hat, gilt Ciudad Juárez als Hauptstadt des Drogenhandels und der Gewalt. Etwa 5600 Menschen sind im vergangenen Jahr landesweit dem Drogenkrieg zum Opfer gefallen, rund ein Viertel in Ciudad Juárez. Die Regierung hat militärische Verstärkung an die Brennpunkte geschickt, insgesamt 27000 Soldaten. Sie kann Erfolge vorweisen bei der Sicherstellung riesiger Mengen an Kokain, Marihuana und Amphetaminen. Doch festgenommene Clanchefs werden sofort durch neue ersetzt, die Kampfzone wurde ausgeweitet. Jagten die Banden einander früher am Rande der Städte, eröffnen sie nun mitten in einem Einkaufszentrum das Feuer, nach der Sonntagsmesse oder auf Straßenfesten. Es trifft Mafiabosse, Drogenkuriere, Polizisten, unbeteiligte Zivilisten. Im Bundesstaat Michoacán warfen Unbekannte die abgetrennten Köpfe ihrer Opfer auf die Tanzfläche einer gut besuchten Diskothek. Die meisten Leichen werden enthauptet aufgefunden, mit abgetrennten Gliedmaßen. 56 Prozent der Mexikaner halten die Kartelle inzwischen für mächtiger als ihre Regierung. Zumindest in den Augen der Bevölkerung verliert Mexiko den Krieg gegen die Mafia.
Jahrzehntelang galt Mexiko in erster Linie als Transitland für den Transport von Kokain in die Vereinigten Staaten. Ausgerechnet die USA hatten den Anbau von Mohn in Mexiko während des Zweiten Weltkriegs gefördert, um den Bedarf an Morphium für verwundete Soldaten sicherzustellen. Nach dem Ende des Vietnamkriegs erlosch die Nachfrage, aber die Pflanzungen blieben. Mit einer Mischung aus wohlwollender Untätigkeit, Bestechlichkeit und Kontrolle sorgte das Ein-Parteien-System der Partido Revolucionaro Institucional (PRI) für eine Balance der Interessen der patriarchalisch organisierten frühen Kartelle. Mit der Rückkehr zur Demokratie zu Beginn des 21.Jahrhunderts – das ist eine der bitteren Einsichten – wurde dieses informelle Gleichgewicht zerstört und die Zentralregierung nachhaltig geschwächt.
Als in den neunziger Jahren die Nachfrage an Kokain in den USA einbrach, errichteten die mexikanischen Drogenkartelle neue Absatzmärkte im Inland. Drogenkuriere und Todesschützen, die sogenannten sicarios, wurden in Naturalien, mit Rauschgift bezahlt. Seit 2001 hat sich die Zahl der Crack-Abhängigen im Land verdreifacht. Sieben Kartelle sowie mehrere nahezu freischaffende Drogenbanden kämpfen um Stadtbezirke und Straßenzüge. Mittendrin steckt die Polizei, oft als Opfer oder Komplize, seltener als Ermittler. Ein wirres Geflecht meist schlecht bezahlter Beamter in verschiedenen Einheiten auf lokaler, bundesstaatlicher und föderaler Ebene hat die mexikanische Polizei zu einer der korruptesten Institutionen des Landes gemacht.
Nicht nur kleine Beamte sind in das Drogengeschäft verwickelt. Ende 2008 wurde in der Hauptstadt Noé Ramírez Mandujano festgenommen, in der Staatsanwaltschaft ehemals Leiter der Abteilung für Organisierte Kriminalität. Über Jahre soll er sensible Informationen seiner Behörde an das Kartell von Sinaloa weitergegeben und dafür ein Monatsgehalt von 360000 Euro kassiert haben.
»Ich bin wie eine Hämorrhoide – die stört zwar, aber sie bringt niemanden um, deshalb tun sie mir nichts.«
Es ist Sonntag, José Miramontes kurvt mit seinem weißen Straßenkreuzer durch ein Wohnviertel von Ciudad Juárez, vorbei an einfachen Einfamilienhäusern hinter Zäunen, er will seine Stadt zeigen. Vor einem Gebäude hinter einem schmalen Gartentor verlangsamt der Anwalt das Tempo. »Hier haben sie im Vorgarten 30 Leichen gefunden, Opfer der narcos, im Patio verscharrt«, sagt er, »wahrscheinlich wird nie umfassend ermittelt, wer die Toten überhaupt waren.«
Miramontes ist jetzt 39, er war selbst Polizist, Ermittler beim Morddezernat und dort zuständig für die Frauenmorde, mit denen die Stadt in den neunziger Jahren in die Schlagzeilen geriet. Seit vier Jahren verteidigt Miramontes vor Gericht ehemalige Kollegen, die, so sagt er, von ihren Vorgesetzten als Sündenböcke missbraucht werden, um die eigenen Verstrickungen mit der Mafia zu kaschieren. Darunter auch solche, die behaupten, bei der sogenannten Vertrauensprüfung mit Schlägen und Stromstößen misshandelt worden zu sein. Es gibt nicht viele Anwälte im Land, die sich in dieses Dickicht geldwerter Loyalitäten und oft tödlicher Fehlkalkulationen wagen. Seinen Job hält er für relativ ungefährlich, weil ihm das Milieu vertraut sei. »Ich bin wie eine Hämorrhoide – die stört zwar, aber sie bringt niemanden um, deshalb tun sie mir nichts.«
Er nimmt die Landstraße, fährt vorbei am Gefängnis von Ciudad Juárez, das für 1000 Insassen gebaut wurde und derzeit mit 4800 Menschen belegt ist. Links und rechts verschleudern Schrotthändler die Teile angeblich gebrauchter Fahrzeuge, von denen jeder weiß, dass die meisten gestohlen sind. Auf einem Parkplatz der Polizei rosten Autos mit Einschusslöchern und zerborstenen Windschutzscheiben, ein Vorhof zu den Gräberfeldern der Stadt: Fahrzeuge, die in den vergangenen Monaten an Tatorten sichergestellt worden sind. Die Landstraße führt weiter nach Villa Ahumada, wo im Mai nach einem Massaker der Drogenmafia die überlebenden Polizisten die Flucht ergriffen und den Ort schutzlos zurückließen.
Offen ist, ob die Gewaltexzesse der vergangenen Monate den Höhepunkt des Drogenkrieges markieren oder seinen Anfang. Viele fürchten eine »Kolumbianisierung« des Konflikts. Schon heute ist Mexiko internationaler Spitzenreiter bei der Zahl der Entführungen, einem Nebenerwerbszweig der Mafia. Es gibt Stimmen im Land, die ernsthaft auf eine Verhandlungslösung drängen. Aber wie sollte die aussehen? Die Regierung schenkt der Mafia mehr Handlungsspielraum und drängt im Gegenzug auf einen Gewaltverzicht? Eine aberwitzige Strategie, die schon die Vereinigten Staaten niemals akzeptieren würden. Mit der Mérida-Initiative, einem Drogenbekämpfungsprogramm, für das allein in diesem Jahr 450 Millionen Dollar vorgesehen sind, verfolgt Washington vielmehr ein ähnliches Konzept wie in Kolumbien, das allein auf militärische Konfrontation setzt: Ausbildung und technische Unterstützung im Kampf gegen die Mafia.
Die Legalisierung der Drogen in den Konsumländern – diesen radikalen Schritt halten Sicherheitsexperten wie der mexikanische Politologe Jorge Chabat für die einzige »wirkliche Lösung«. Aber das wird kaum passieren.
Auf der Landstraße nach Süden, am Stadtrand von Ciudad Juárez, weisen weiß gestrichene Reifen und ein Haufen Steine in der Straßenmitte auf eine Militärkontrolle hin. »Endlich hält uns mal jemand an!«, ruft Anwalt Miramontes und lacht. Er glaubt nicht an den Nutzen der militärischen Verstärkung. Dass die Armee weniger korrupt sei als die lokale Polizei, hält er für einen Mythos. Während zwei blutjunge Soldaten den Wagen oberflächlich durchsuchen, deutet Miramontes auf ein geparktes Militärfahrzeug mit aufgepflanztem Maschinengewehr. Niemand bewacht die Waffe. »Und das«, sagt Miramontes, »soll militärische Intelligenz sein?«
Später am Nachmittag begegnet ihm ein ehemaliger Kollege im Einkaufszentrum. Der Mann hat seinen Job als Polizist im Süden des Landes aufgegeben. »Es ging einfach nicht mehr«, sagt er, während sein Sohn auf seinen Schultern mit den Beinen zappelt. »Auf der einen Seite die korrupten Chefs, auf der anderen die Mafia – wir haben keine Chance.« In der Nacht fahren Kolonnen von Streifenwagen der Polizei in Ciudad Juárez mit Blaulicht durch die Straßen. Sie werden wieder zu spät kommen.