Das Kind und der Dichter

Kleine Fußspuren im Sand, den Hügel hinunter, in Richtung Meer, enden am Tor eines Hauses, vor den Füßen eines Mannes, von dem das Kind nur weiß, dass er riesig ist. Eine große Nase hat. Eine Kapitänsmütze trägt. Und lächelt. Der Junge, der den Kopf im Nacken wiegt, hat keinen Vater. Er lebt mit Mutter und Großmutter ein paar hundert Meter entfernt, oben am Hang. Es ist seine erste Begegnung mit dem Dichter, an einem Nachmittag im Jahr 1953, der Anfang eines neuen Lebens.

Für die einen ist Isla Negra ein Nest, ein chilenisches Kaff mit 200 Einwohnern am schmalen Ende der Welt, 130 Kilometer westlich der Hauptstadt, ein Ort, der im Herbst zu sterben beginnt, wenn die Nächte kälter werden und in Santiago die Schule anfängt. Für die anderen, die Leser und Lyriker, ist Isla Negra Pablo-City, das Zentrum von Neruda-Land. Der mannshohe Zaun um Nerudas Anwesen lässt an einigen Stellen gerahmte Sehschlitze, um auch an Ruhetagen einen Blick werfen zu können auf die Lokomotive im Vorgarten, die Blumen, die Fenster, einen Sehschlitz auf Augenhöhe eines Erwachsenen, einen weiter unten, auf Höhe der Augen eines Kindes. Montags bleibt das Museum geschlossen. Und der Supermarkt. Und der Touristenkiosk. An der Tür zum Haus des Dichters bittet ein Schild Besucher, nicht zu insistieren, dass geöffnet wird.

Als der Dichter 1939 den Steinrohbau von Don Eladio Sobrino kaufte, einem pensionierten Seemann und Sozialisten spanischer Provenienz, lebten im Dorf kaum mehr als 70 Menschen, die meisten von ihnen untereinander verwandt. Im Winter schwoll der kleine Bach zum reißenden Strom und isolierte die Einwohner tagelang von der Außenwelt. Unten im Meer tummelten sich üppige Populationen einer Fischsorte, die im Spanischen den Namen Loco trägt.

Zwischen bunten Flaschen von Pariser Flohmärkten, gläsernen Klavierstützen, aufgespießten Schmetterlingen und weinenden Galionsfiguren, umgeben von mexikanischen Teufelchen, Flaschenschiffen, Masken, Steigbügeln, Pferdchen und ausgestopften Vögeln, lebte der Dichter in Isla Negra. In sein Haus auf Sand unter den Zypressen kehrte er immer wieder zurück, von Aufenthalten in seinen beiden anderen Häusern in Valparaíso und Santiago, von freiwilligen und unfreiwilligen Auslandsreisen. Im diplomatischen Dienst war er in Birma, Argentinien, Spanien, Mexiko und Frankreich stationiert. Sein Engagement in der Kommunistischen Partei Chiles zwang ihn Ende der vierziger Jahre ins Exil. 1969 kandidierte er für das Amt des Präsidenten, zog die Kandidatur aber zugunsten seines Freundes Salvador Allende zurück. Zwei Jahre später wurde sein lyrisches Werk mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

Der Krebs hatte seinen mächtigen Körper schon nahezu besiegt, als Neruda seiner dritten Ehefrau, Matilde Urrutia, in Isla Negra das Nachwort zu seiner Autobiografie Ich bekenne, ich habe gelebt diktierte. Der Text ist eine Anklageschrift gegen die Mörder Allendes, formuliert wenige Tage nach dem 11. September 1973, dem Tag, an dem das Militär putschte. Knapp zwei Wochen später starb Pablo Neruda in einem Krankenhaus der Hauptstadt. Er hinterließ keine Waisen, nicht im juristischen Sinne.

In Isla Negra erzählen die Leute von einem kleinen, dürren Jungen mit Kapitänsmütze, die ihm tief ins Gesicht rutschte, vom Kind, das neben dem Dichter spazieren ging, unten am Strand, der weniger schwarz ist, als man vermuten würde. Die Leute sagen »Neruda chico«, wenn sie von Enrique Segura Salazar sprechen, kleiner Neruda, auch heute noch. Der 54-Jährige wirkt schmächtig, trotz der Spritzen und Tabletten, die ihm ein befreundeter Arzt von Neruda verabreicht hat, als er 17 Jahre alt war und immer noch 1,56 Meter groß. 15 Zentimeter mag das gebracht haben. Seine dunklen Augen treten kindchengroß aus dem schmalen Gesicht, am Kinn wächst ein grau melierter Bart. Seine Finger spielen mit dem roten Leseband, das die Seite der Gesammelten Werke markiert, die ihm gehört, ihm allein. Er schiebt das Buch über den Schreibtisch. »Fünf Jahre / von E. / dann sechs Jahre / inzwischen neuneinhalb / immer hier zwischen den Algen der Isla Negra / (…) ein Jahr mehr von Enrique / von Segura / von Salazar / der Enkel von Don Cloro (…) / oh kleiner Astronaut / ich frage Dich, und frage: / wirst Du zurückkehren auf Deinem Schiff / eines Tages?« Das Gedicht, veröffentlicht in der Sammlung Plenos Poderes von 1962, trägt die Überschrift Für E.S.S., Enriques Initialen.

Er ist aufgewachsen an diesem Ort, unweit der asphaltierten Hauptstraße, von der bis heute sandige Pisten abzweigen. Hütten und Häuser haben Wände aus Holz und Dächer aus Wellblech. Ringsum riesige Bäume, vor allem viele. Am Strand von Isla Negra wird noch gestorben. Schilder warnen vorm Bad in der wilden pazifischen Strömung. Von einem Felsen aus schaut die steinerne Büste des Dichters aufs Meer. Die Mütze ist vogelbedingt in einem bedauernswerten Zustand.

»Damals, als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin, war mir nicht wirklich klar, wer er ist, das kam erst später, als ich fünf, sechs Jahre alt war.« Enrique Segura sitzt in einem Büro des Museums, das Nerudas Haus war, in einem der vielen Anbauten an ein Gebäude, dessen Fenster das Meer mit dunklem Blau füllt. »Bei mir zu Hause war das Leben hart, deshalb kam ich oft hierher nach der Schule, um mit ihnen zu essen, im Hof zu spielen, umgeben von Blumen und Pflanzen.« Das Haus war kleiner, damals, ohne das Arbeitszimmer mit dem Tisch und der Schreibplatte aus Treibholz, die der Dichter aus dem Meer gezogen hat, ohne den Raum für ein ausgestopftes Pferd, ohne Muschelsaal und Kaminzimmer. Draußen im Garten hing die Galionsfigur Medusa an einem Mast und schaute aufs Meer, während Neruda unter ihren hölzernen Brüsten saß und schrieb. 1992, nach dem Ende der langen Diktatur, wurden Pablo Neruda und Matilde Urrutia an dieser Stelle beigesetzt, inmitten einer Plattform, die wie der Bug eines Schiffs in den Pazifik zu stechen scheint.

Er sagt, er sei ein schüchternes Kind gewesen, zurückhaltend, aber eines, das aufblühte, sobald man sich ihm näherte. Warum er es war, den der Dichter in sein Herz schloss, kann er sich noch immer nicht erklären. Enrique Segura schiebt fotografische Zeugnisse über den Tisch, als müsse er sich ausweisen: ein großer korpulenter Mann im gestreiften Matrosenpullover, der den Kopf schräg senkt und mit dem Finger den Arm des Jungen streichelt, der steif neben ihm steht, das ernste Gesicht von der riesigen Kapitänsmütze auf seinem Kopf vollständig beschattet. »Er sieht so sympathisch aus auf dem Foto, fröhlich, an meiner Seite zu sein – seine Zuneigung hätte jeden treffen können, aber es hat eben mich getroffen.«

Wenn Gäste im Museum über die Kordeln treten, wenn Schüler die Bleistifte auspacken und damit auf die Exponate losgehen – 18 Stiche und eine ungeheuer teure Gemälderestauration, das kommt vor –, dann rufen die Frauen, die Gruppen durch das Haus begleiten, nach Enrique, damit er die Besucher zurechtweist, nach dem kleinen Neruda, das wirkt. Er sagt, dass er es schon als Kind nicht leiden konnte, wenn Gäste Dinge im Haus anfassten, aus Egoismus, wie er sagt. Enrique Segura erzählt von einem kalten Abend, an dem Neruda den Fischer Manuel ins Haus bat, um sich aufzuwärmen, Manuel Yankas, der bis heute in seiner Hütte am Strand lebt und auf dem kleinen Platz nahe dem Museum Erdnüsse verkauft. »Ich zog an Nerudas Ärmel und sagte: Aber er riecht nach Fisch, nach Schweiß, er ist schmutzig. Er kann sich doch so nicht auf den guten Sessel setzen. Und Neruda sagte zu mir: Enrique, benimm dich. Jeder Mensch hat das Recht, sich hinzusetzen.«

Es sind Geschichten von menschlicher Größe und moralischer Integrität, die die Bewohner von Isla Negra über ihn erzählen. Von Neruda, dem Diplomaten, der 1939 republikanische Flüchtlinge aus Franco-Spanien nach Chile rettete, von Neruda, dem Kommunisten, der mit seinen Gedichten für die Entrechteten einstand, vom Volksdichter, der am Strand von Isla Negra nie jemandem den Gruß verweigerte. Vielleicht müssen sie diese Geschichten erzählen. Pablo Neruda verdanken die Bewohner, dass überhaupt ein Tourist den chilenischen Sommer in ihrem Dorf verbringt. Täglich defilieren Hunderte an seinen zahllosen Sammlungen vorbei, eingelagerte Erinnerungen, die ohne die Lebenszeichen halb ausgetrunkener Kaffeetassen und aufgeschlagener Bücher zu Exponaten erstarren. Was fehlt, sind fünf kleine Eisenbahnwaggons, die früher auf dem Kamin standen, eine Erinnerung an Nerudas Vater, der Schotterzüge durch den regnerischen Süden Chiles steuerte. Enrique liebte sie, als er ein Kind war.

»Ich hatte einen Rezitierwettbewerb gewonnen und kam nach der Schule nach Hause. Neruda sagte: Du hast Dir ein gutes Mittagessen verdient, weil du gut rezitiert hast, und morgen nehmen wir dich mit nach Valparaíso. Ich sagte: Ich will aber eine von den Lokomotiven haben. Doña Matilde sagte: Nein, Pablo, das wirst du nicht tun, Enrique bekommt immer alles von dir. Und ich, ein bisschen nerviger: Ich will die Lokomotive. Er bot mir an, dass ich mir eine aussuche. Aber ich sagte: Nein, ich will alle fünf, und starrte mit grimmigem Gesicht auf den Boden.

Sieh mich an, sagte er.

Nein.

Sieh mich an, sieh mir in die Augen.

Ich dachte, dass ich sie vielleicht bekomme, wenn ich ihn ansehe. Also schaute ich hoch.

Ich will dir etwas sagen. Bestehe nicht darauf, dass Du alle fünf bekommst. Ich gebe dir zwei, mehr nicht.

Er hatte also schon erhöht.«

Enrique bewahrte die beiden Züge an einem sicheren Ort auf, versagte sich, mit ihnen zu spielen, um sie zu schonen. Bis zum nächsten Wettbewerb. »Nachdem ich den gewonnen hatte, bekam ich auch die anderen drei Wagen, aber das hat Mühe gekostet. Und Matilde war sauer.« Enrique Segura weiß nicht, was aus den Waggons geworden ist. Er hat sie verschenkt, an Neffen, die kleinen Brüder von Freundinnen, um sich bei den Mädchen beliebt zu machen. »Ich habe nichts mehr von ihm«, sagt er. Nur die sepiafarbenen Fotografien und Erinnerungen.

Bis heute spricht Enrique Segura von einem »Märchen«, wenn er an Don Pablo, den großen Dichter, und sein Herz für den kleinen Jungen zurückdenkt. Ein Junge, der sehr stolz darauf war, »mit diesem Riesen durch die Gegend zu ziehen, eins fünfundachtzig und nie weniger als hundert Kilo, an seiner Hand, beide mit Kapitänsmützen auf dem Kopf«. Ein Junge, der glücklich war, am Unabhängigkeitstag die Nerudas in der ersten Reihe des Publikums zu entdecken, wenn er auf die Bühne trat, um Gedichte vorzutragen, weil er glaubte, hoffte, wusste, dass sie wegen ihm gekommen waren, »und ich dachte, obwohl ich es nie wirklich geglaubt habe: Das ist mein Papa. Wenn er hier ist, dann hat das seinen Grund.« Trotzdem hat Enrique Segura sich nie vom düsteren Verdacht befreit, er könnte dem Dichter nur »ein Spielzeug aus Fleisch und Blut« gewesen sein, ein Exponat seiner Sammlung.

Es hätte anders kommen können. Als Enrique neun Jahre alt war, wollte Neruda den Jungen adoptieren. Vielleicht aus Mitmenschlichkeit, vielleicht auch, um das Kind, das bei Festen Gedichte von García Lorca und Rubén Darío rezitierte, »mit ausgebreiteten Armen und Pathos, nicht so monoton wie Neruda« (sagt Enrique), um den Jungen, dem er Kleidung und Schulsachen kaufte, dem er zu Essen gab und den er zu Bett brachte, um Enrique Segura Salazar auch offiziell zu dem Sohn zu erklären, als der er aufwuchs. Aber Enriques Großmutter war strikt dagegen. Und das Kind, das nicht verstand, was das bedeutet, Adoption, fragte einen Lehrer in der Schule, der ihm erklärte: Adoption, das ist, wie wenn man verschenkt wird. Der Plan wurde verworfen. »Wenn man mir das besser verständlich gemacht hätte, vielleicht wäre ich mutiger gewesen und hätte dafür gekämpft.«

Enrique lebte schon lange in einem Nachbarort von Isla Negra, hatte eine Freundin und sah den Dichter nur noch selten, als er eines Nachmittags noch einmal die sandige Straße zum Anwesen herunterkam. Er brauchte ein Empfehlungsschreiben. Neruda schrieb es ihm. Über seiner Unterschrift notierte er mit grüner Tinte »para casi mi hijo«, für fast meinen Sohn. »Er fragte mich: Wie sehe ich aus? Älter? Und ich sagte: Nein, Don Pablo. Worauf er erwiderte: Nenn mich nicht Don Pablo, nenn mich Alter.« Es war ihre letzte Begegnung.

Unten am Strand schlagen die Wellen an die Felsen, so hoch, dass die Kämme noch in der Dämmerung flaschengrün glänzen, bevor sie sich in weißem Schaum entladen. Einer der Jungs, die im Sand Fußball spielen, klettert den Büsten-Felsen hinauf, klemmt sich Nerudas Nase zwischen die Beine. Seine Freunde lachen sich tot, während er sein Becken gegen die steinerne Stirn des Dichters stößt. Früher sind sie oft an einen der Strände in der Umgebung gefahren, mit mehreren Autos, das Kind, der Dichter und seine Gäste, um den Sonnenuntergang anzusehen. »Neruda sagte immer: Habt ihr das Licht gesehen, bevor die Sonne untergegangen ist, diesen grünen Blitz? Alle nickten. Und ich dachte: Verdammt, bin ich der Einzige, der diesen Blitz nicht sieht? Eines Tages fragte ich seinen Sekretär Homero. Er sagte: Wir erzählen ihm, dass wir den Blitz gesehen haben, damit Pablo sich gut fühlt, aber er ist ein Verrückter, un loco. Ich jedenfalls habe noch nie ein grünes Licht gesehen.«

Enrique Segura sagt, dass er noch immer sein Aroma im Haus riecht, dass er manchmal seine Schritte hört, sehr laut, dass er keinen Zweifel daran hat, dass die Toten zurückkommen. »Neruda war alles für mich. Er war immer da und ist es noch.« Dass er sich abends oft an sein Grab setzt, um ihm von seinen Erlebnissen zu erzählen und die Fragen zu beantworten, die Neruda ihm in seinem Gedicht hinterlassen hat. Enrique schreibt an einem Buch, ein Geschenk zum 100. Geburtstag des Dichters. »Darin erzähle ich ihm: Wir haben die Rollen getauscht. Ich bin jetzt der Kapitän, weil du nicht mehr da bist, und ich bewache das Haus, von den Kommandobrücken aus, weil das Haus wie ein langes Schiff ist, das in Isla Negra vor Anker liegt.« Ein Schiff, auf dem es still geworden ist.

im Juli 2004 erschienen in DIE ZEIT  

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