ein spiel mit echtem einsatz

Dies ist eine Einladung an den Leser, zehn Minuten seiner Zeit mit dem großartigen argentinischen Schriftsteller und enormen Cronopium Julio Cortázar zu verbringen, der heute seinen 90. Geburtstag gefeiert hätte, wäre er nicht vor 20 Jahren gestorben. Aber der komplizenhaften Verschwörung zwischen Autor und Leser kann das kein wirkliches Hindernis sein.

Das „London City“ in Buenos Aires ist ein Ort ohne den Glamour der alten Kaffeehäuser, ein irgendwie praktisches Lokal, ein Café-Café für Arbeitstreffen, Zeitungsleser und Mittagesser, ein Ort, der sich mit der Wucht seiner metaphysischen Leere auf einen Autor wirft, der hier, im „London City“, ein Buch geschrieben hat und berühmt geworden ist. Als sein erster Roman, Die Gewinner, 1960 veröffentlicht wurde, lebte Julio Cortázar bereits seit neun Jahren in Europa, eine Rückkehr zu den eigenen Ursprüngen, gewissermaßen. Am 26. August 1914 in Brüssel geboren, brachten ihm die ersten vier Jahre seines Lebens mit französischsprachiger Schlagseite später den Spitznamen „der Belgier“ ein – es ist Julio Cortázar nie gelungen, das R aus dem Rachen zu lösen und über den Gaumen rollen zu lassen.

Im hinteren Teil des „London City“ steht ein Tisch für zwei am Fenster zur Avenida de Mayo, auf einem kleinen Podest, abgetrennt mit einer roten Museumskordel. Die Stühle tragen feierlich rote Sitzbezüge, wo der Rest honigfarben und abgestoßen sein Alltagsdasein fristet. Auf den Tisch sind zwei Bronzeplaketten geschraubt, daneben ein Broschürenständer aus Plexiglas mit Informationen auf Englisch und Spanisch, ein dreieckiger Quilmes-Aschenbecher und ein Päckchen Jockey Suaves mit weißen Filtern, ein aufgeschlagenes Notizbuch mit liniertem Papier und ein Kugelschreiber. Natürlich handelt es sich nicht um den authentischen Cortázar-Tisch, wahrscheinlicher ist, dass der hagere Mann niemandem auffiel, als er in einer Ecke des Cafés verfasste, was heute in großen Buchstaben unter seinem Porträt auszugsweise an den Wänden hängt: „Vamos al London, che, Perú y Avenida.“

In einem Interview hat Julio Cortázar einmal gesagt, er habe im Alter von acht Jahren angefangen zu schreiben (seine Mutter, die sich im Besitz dieses historischen Dokuments befand, weigerte sich seinerzeit, es zur Zerstörung durch seinen Autor freizugeben; was aus dem Manuskript geworden ist, wird nicht überliefert). Cortázars erster veröffentlichter Erzählband, Bestiario (1951), trägt deutliche Spuren seiner Lektüre von Edgar Allan Poe und der Surrealisten, zeigt den Hang zum Fantastischen, der sich durch sein gesamtes Werk zieht.

Es folgten die Erzählsammlungen Ende des Spiels (1956), Die geheimen Waffen (1959) und Geschichte der Cronopien und Famen (1962), bevor 1963 der Roman erschien, der seinen Weltruhm begründete, ihn endgültig in die Galaxie der lateinamerikanischen Boom-Generation katapultierte, ein Werk, das einen Schatten auf alles warf, was war und folgte: Rayuela.

Wer von der passiven Haltung des „Weibchen-Lesers“ abrückt und als Komplize des Autors durch die Kapitel von Rayuela springt, von Pariser Bohème-WGs in argentinische Irrenanstalten, von Dizzy Gillespie zu Duke Ellington, von Literatur zu Philosophie, von diesem zum anderen Ufer inklusive der „Kapitel, die man getrost beiseite lassen kann“, wer Himmel und Hölle beschreitet, erlebt dabei eine der aufregendsten Reisen, die die Literatur des 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Und wer im Anschluss an die Lektüre nicht nur behauptet, sondern auch beweisen kann, dass er Cortázar liebt, dass er also dessen Aufforderung aus der Reise um den Tag in achtzig Welten (1967) folgend „wenigstens in einem singulären Augenblick diese Liebe gewesen ist, dass er mit ihm und mit dessen Augen gesehen hat und dass er gelernt hat, wie der andere das Offene zu schauen, das ganz Erwartung und Aufforderung ist“, der weiß, warum der Tod kein Hindernis darstellt.

Draußen auf der Straße vor dem Fenster ziehen Demonstrationszüge im Stundentakt die breite Avenida zur Casa Rosada herunter, um vor dem argentinischen Regierungspalast zu demonstrieren. Zunächst bemerkt man die Ruhe, später den fehlenden Verkehr, dann setzen die Trommeln ein, und auf den Bürgersteigen steigt Rauch aus den Parillas, auf denen Würste grillen. Am Vormittag sind es die Piqueteros aus den Vorstädten, die mit vermummten Gesichtern und Metallstangen in den Händen marschieren. Am Nachmittag kommen andere, die UPCN vielleicht, städtische Angstellte, deren Gehälter seit 14 Jahren nicht erhöht worden sind. Sie werfen Flugblätter in die Luft, mit Logos ihrer Organisationen, mit ihren Forderungen. Die Zettel bleiben auf dem Asphalt liegen, wenn der Verkehr zurückkehrt. Später wird der nächste Demonstrationszug über sie hinweggehen. Die Avenida de Mayo, Laufsteg des Widerstands.

Den Mai 1968 erlebte Julio Cortázar in Frankreich. „Damals, in diesen turbulenten Tagen, konnte man ihn auf den Pariser Barrikaden sehen, wo er selbstverfasste Flugblätter verteilte, mitten unter den Studenten, welche ,die Fantasie an die Macht‘ wünschten“, erinnert sich Mario Vargas Llosa. „Er war vierundfünfzig Jahre alt.“ Julio Cortázar hat spät angefangen, sich politisch zu engagieren. Die sandinistische Revolution hat er unterstützt, die kubanische sowieso, obwohl er Castro-Kuba gegenüber nie unkritisch war. An fragwürdigen Protestaktionen und öffentlichen Schuldzuweisungen linker Intellektueller hat er sich jedoch nie beteiligt.

Eine Woche nach dem Putsch chilenischer Militärs am 11. September 1972 wurde Julio Cortázar als Teil der Jury zum zweiten Russell-Tribunal eingeladen, das sich mit der Menschenrechtssituation in Lateinamerika beschäftigte. Die Ergebnisse der Konferenz transportierte er später unter anderem in seinem Buch Fantomas contra los vampiros multinacionales (dt. Fantomas gegen die multinationalen Vampire), in dem er sich mit einer Mischung aus Comic, Prosatext und Essay um eine breitere Rezeption der Anklageschrift bemüht. Drei Jahre später, 1976, machte ihn die Diktatur in Argentinien selbst zum Exilanten in Europa.

Zu seiner letzten Reise brach Julio Cortázar 1982 mit seiner dritten Ehefrau Carol Dunlop auf. In einem VW-Bus, mit dem die beiden an jeder Autobahnraststätte Halt machten und auf jeder zweiten übernachteten. Vier Wochen Paris-Marseille, eine Fahrt, die die Reisenden in ein Paralleluniversum führt, in dem die Zeit aus ihrer Bahn springt und Verkehrshütchen magische Kräfte entfalten. „Wir widmen diese Expedition und ihre Chronik allen Bekloppten der Welt“, heißt es im Vorwort zu den Autonauten auf der Kosmobahn, „und insbesondere jenem englischen Gentleman, an dessen Namen wir uns nicht mehr erinnern und der im 18. Jahrhundert die Strecke London-Edinburgh rückwärts gehend zurücklegte und dabei Wiedertäuferhymnen sang“. Julio Cortázars Werk sei „immer spielerisch“, beschreibt sein Biograf Mario Goloboff das Offensichtliche, „immer und trotz allem völlig unfeierlich“. Ein Spiel mit echtem Einsatz.

„Rayuela“, wo bist du?

In Buenos Aires führt im argentinischen Sommer 2004 nur eine einzige Buchhandlung den Titel Rayuela. In allen anderen Geschäften, an der Calle Florida, der Avenida Corrientes, bei den Antiquariaten auf der Avenida de Mayo liegen belletristische Restbestände. Kein Geld für Neuauflagen. Ein spanischer Verlag hat unlängst mit einer luxuriösen Ausgabe der gesammelten Werke Julio Cortázars begonnen. Der Euro-Preis wird direkt in Pesos umgerechnet, ein Preis also, den sich in Argentinien niemand leisten kann, wo auf den Flohmärkten der Ausverkauf von Devotionalien begonnen hat – Schallplatten, Kassetten, Erstausgaben.

„Wir brauchen heute mehr denn je die Che Guevaras der Sprache“, hat Julio Cortázar gefordert, „die Revolutionäre der Literatur anstatt der Revolutionsliteraten“. Der Satz gilt umso mehr, nachdem auch die Revolutionsliteraten ihre Stifte eingesteckt haben.

J[box]ulio Cortázar: „Reise um den Tag in achtzig Welten / Letzte Runde.“ Aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2004, 320 Seiten, 24,90 Euro.[/box]

erschienen im August 2004 in der Frankfurter Rundschau
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