ein porträt

erschienen im März 2004 in STERN Biografie

Ihr Gesicht trägt keine Spuren der Angst, die sie gequält haben muss, selbst sie. „Es geht mir gut, ich bin am Leben.“ Die Frau spricht ruhig, eindringlich, die schmalen Hände vor sich auf der Tischplatte gefaltet, als gelte es, einen Zweifler von ihrem Standpunkt zu überzeugen, zu Hause, an ihrem Schreibtisch in Bogota. Hinter dem geblümten Tuch in ihrem Rücken kräht ein Hahn. Früher hatte sie blond gefärbte Strähnen im Haar, das ihr nun zum Zopf gebunden dunkel über die linke Schulter fällt. „Niemand kann auf seine Rechte verzichten, niemand kann auf die Freiheit verzichten, nicht mal aus Vorsicht.“ Ingrid Betancourts Stimme zittert nicht, während sie sagt, dass sie bereit ist, für ihre Überzeugungen ihr Leben aufs Spiel zu setzen, immer noch. Ein Hund bellt hinter den Rosen aus Stoff in ihrem Rücken, irgendwo in Kolumbien.

Das Video der entführten kolumbianischen Politikerin Ingrid Betancourt tauchte im September 2003 beim Nachrichtensender „Noticias Uno“ auf, das zweite Lebenszeichen seit ihrem Verschwinden am 23. Februar 2002, seit die frühere Präsidentschaftskandidatin von Rebellen der mächtigen „Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia“ (FARC) gefangen gehalten wird. Die Guerilla will die heute 42-Jährige gegen inhaftierte Companeros austauschen. Die Regierung des kolumbianischen Präsidenten lvaro Uribe Velez lehnt Verhandlungen ab. Der Krieg geht weiter.

Ingrid Betancourt hat es ihren Entführern leicht gemacht, als sie an jenem Morgen ohne Begleitschutz vom Flughafen in Florencia aufbrach, um in San Vicente del Caguan an einer Kundgebung teilzunehmen, quer durch die Kampfzone. Drei Tage zuvor hatte der damalige Präsident Andres Pastrana den Friedensdialog mit der Guerilla abgebrochen. Soldaten marschierten in die ehemals „entmilitarisierte Zone“, Armeeflugzeuge durchschrammten den Himmel über der Provinz Caqueta, 450 Kilometer südlich von Bogota.

Auf der Carrera Septima im Zentrum der kolumbianischen Hauptstadt bewegt sich nichts und niemand zum Vergnügen. Busse blasen Passanten schwarze Abgase ins Gesicht, der Verkehr fließt zäh, vorbei an spiegelglatten Hochhausfassaden. Wer die Carrera Septima überqueren will, braucht eine der wenigen Fußgängerampeln oder viel Mut. Ingrid Betancourt ist auf dieser Straße vor Jahren knapp einem Mordanschlag entgangen, als Sicarios, bezahlte Todesschützen, auf ihr Auto schossen. An der Carrera Septima lag auch ihr Wahlkampfbüro, die Zentrale von Oxigeno Verde (Grüner Sauerstoff). Der Straßenlärm drang durch die Fenster bis in ihr Büro im dritten Stock des Gebäudes.

Eine Begegnung mit Ingrid Betancourt hat etwas von der Erleichterung, die man empfinden mag, wenn bei einem steifen Empfang überraschend ein Freund zwischen den verkniffenen Gesichtern auftaucht. An jenem Morgen im Januar 2002, am Konferenztisch zwischen Bücherregalen und einer kopfkissengroßen kolumbianischen Fahne, war sie blass, lächelte erschöpft, und Müdigkeit glänzte in ihren dunklen Augen. Ihr Vater hatte wenige Tage zuvor einen Schlaganfall erlitten. Die Präsidentschaftskandidatin pendelte zwischen Interviews, Intensivstation und Wahlkampfveranstaltungen, begleitet von 15 Bodyguards. Sie bemerkte die irritierten Blicke, mit denen ausländische Journalisten die Gewehrläufe ihrer Beschützer musterten, die Unruhe in ihrer Nähe, die meistens in einer einzigen, weit offenen Frage mündete: Warum? Warum tut diese Frau sich das an?

Ingrid Betancourt hat aufgegeben, wofür viele Kolumbianer tagelang vor den Konsulaten in der Hauptstadt Schlange stehen: ein Leben im Ausland, in Sicherheit und Wohlstand – das Leben einer Diplomatengattin im Paradies. Als sie sich 1989 von ihrem ersten Ehemann, damals französischer Botschafter auf den Seychellen, trennte und nach Kolumbien zurückkehrte, um in die Politik zu gehen, ließ sie ihre beiden Kinder beim Vater zurück, in Sicherheit.

Wie schwer ihr die Trennung gefallen ist, hat sie in ihrer Autobiografie „Die Wut in meinem Herzen“ beschrieben, in Frankreich ein Bestseller. In ihrem Büro sprach sie sachlich und gefasst über die Risiken und Härten ihres Lebens, als hätte das viele Reden darüber die Emotionen abgeschliffen. „Ich konnte dieses Leben dort nicht leben, im Wissen, was die Menschen hier durchmachen“, sagte sie mit warmer Stimme, „im Wissen, dass ich vielleicht aufgrund meiner Herkunft, meiner Möglichkeiten, Türen zu öffnen, dazu beitragen könnte, die Dinge in Kolumbien zu ändern“. Die bewegten Falten auf ihrer Stirn begleiteten die Worte wie Untertitel. In ihrem Buch schreibt sie über ihre „halsstarrige und naive Liebe für ein Land, dessen Leid ich zwangsläufig nie geteilt habe“, eine selten selbstkritische Anmerkung. Während man ihr in Kolumbien vorwarf, sich mit ihren Memoiren als einsame Aufrichtige in einem Land von Kriminellen zu präsentieren, feierten Zeitungen und Magazine in Europa die Präsidentschaftskandidatin als „Jeanne d’Arc Kolumbiens“, ein Titel, der ihr gefiel: „Sie war eine Frau, die für ihre Ideale und Werte gekämpft hat. Auch ich bin bereit, alles aufs Spiel zu setzen.“

Ingrid Betancourt wuchs in Frankreich auf, besuchte später in Bogota das französische Gymnasium und studierte in Paris an einer Elitehochschule für politische Wissenschaften. Ihr Vater, Gabriel Betancourt, war Diplomat in Frankreich und Bildungsminister in Kolumbien. Ihre Mutter, Yolanda Pulecio, mehrfache Schönheitskönigin, arbeitete als Abgeordnete der Liberalen Partei. In den Elendsvierteln Bogotas hat sie fünf Albergues für Straßenkinder gegründet. Die Jungs riefen „Mami“, als ihr Wagen im Januar auf den Hof rollte, drängten sich dicht an Yolanda und Ingrid, als die Frauen aus dem Fond mit den kugelsicheren Scheiben stiegen. Ingrid Betancourt trank Kamillentee im Stehen, ließ sich von den Kindern das kleine Einmaleins aufsagen und versprach eine glücklichere Zukunft, sollte sie gewählt werden. Zum ersten Mal an diesem Tag wirkte die Präsidentschaftskandidatin entspannt.

Als der Liberale Luis Carlos Galan 1989 bei einer Wahlkampfveranstaltung ermordet wurde, entging Yolanda Pulecio dem Attentat nur durch Zufall. Ingrid Betancourt hatte Tränen in den Augen, als sie von der Nacht erzählte, die einen Wendepunkt markiert, von der Zeit, als sich ihre Mutter aus der Politik zurückzog und sie, die Tochter, übernahm. Eine Erbin der Familientradition, vielleicht. Vor allem aber die Herausforderin in einem Kampf, den ihre Eltern nicht gewonnen haben, an dem so viele gescheitert sind im Laufe des seit mehr als 50 Jahren andauernden kolumbianischen Bürgerkriegs. Ingrids ältere Schwester Astrid glaubt, dass Ingrid das Vorbild ihrer Eltern übertreffen wollte. An jenem Nachmittag im Januar sagte Yolanda Pulecio, sie habe oft Angst um ihre Tochter, aber sie werde Ingrid nicht von ihrer Kandidatur abhalten: „Ich habe Vertrauen zu Gott und zu Ing-rid.“ Heute betet Yolanda Rosenkränze, jeden Samstag, zwölf Uhr, um ihrer Tochter nahe zu sein. Agenturfotos von Solidaritätsveranstaltungen zeigen das Bild einer stark gealterten Frau. Ingrids Vater, Don Gabriel, starb wenige Wochen nach der Entführung.

Seit ihrem überraschenden Sprung ins Parlament 1994 prangerte Ingrid Betan-court Waffenschiebereien der Regierung an, bezeichnete die Volksvertretung als „Rattennest“ und nannte öffentlich die Namen der „fünf bestechlichsten Abgeordneten“ im Fernsehen. „Hysterisch“, schrieben einheimische Medien über das „enfant terrible“ der kolumbianischen Politik, wo Männer als streitbar bezeichnet worden wären. Um die Staatsanwaltschaft zum Handeln gegen den früheren Präsidenten Ernesto Samper zu zwingen, der im Verdacht stand, seine Wahlkampagne mit Geld des Drogenkartells von Cali finanziert zu haben, trat Betancourt in Hungerstreik, tagelang.

Es ist diese Hartnäckigkeit im Kampf gegen die Korruption, die Ingrid Betancourt viele Feinde gemacht hat, politische Feinde, die genug Macht und Mittel haben, um Mörder auf sie anzusetzen, aber auch Feinde in der Bevölkerung. Viele Kritiker sehen in ihr das verwöhnte Mädchen vom Lyzeum, das Revolution spielt, zum Zeitvertreib. Einer der wichtigsten Punkte ihrer Agenda war die Umsetzung einer Landreform. „In Kolumbien haben wir Tausende von Fällen gehabt, in denen unsere Oligarchie sich Ländereien unter den Nagel gerissen hat“, sagte sie in ihrem Büro an der Carrera Septima. „Sie gehen einfach hin, töten den Bauern, nehmen sich sein Land, und die Justiz unternimmt nichts, weil es wichtige Leute sind, Senatoren, Minister. Die soziale Schuld, die wir in Kolumbien auf uns geladen haben, ist unser wahres Problem.“ Ingrid Betancourts Problem im Wahlkampf blieb, dass sie aus der Schicht stammte, von der sie sprach.

Unter den Männern, die nicht von ihrer Seite wichen, gab es einen, der keine Waffe trug. Juan Carlos Lecompte, Ingrid Betancourts zweiter Ehemann, unterstützte ihre Kampagnen als PR-Berater. Ein lässiger Mann Anfang 40, der an jenem Tag in der Parteizentrale selten lächelte, erfüllt von einer Mischung aus Furcht, Stress und Unmut. „Es ist schon hart“, sagte er, auf ein Sofa gegossen, und seufzte. Der tagtägliche Druck, der seiner Frau selten anzumerken war, platzte im Gespräch aus ihm heraus, vermutlich ein Grund dafür, dass er sich ungern dazu durchrang. „Was mich zum Beispiel sehr stört, ist das Thema Kino. Ich meine, wenn ich mit Ingrid ins Kino gehen möchte, muss ich acht Eintrittskarten kaufen – zwei für uns und sechs für die Bodyguards. Jetzt gehen wir halt nicht mehr ins Kino. Schade. Ich bin gerne ins Kino gegangen.“ Er selbst, sagte er, sei nie bedroht worden.

Die Angst von Ingrid Betancourt hat sich immer auf ihre beiden Kinder Melanie und Lorenzo konzentriert, Angst vor einer möglichen Entführung. Jetzt ist es ihre 17 Jahre alte Tochter, die Solidaritätsgruppen im Ausland besucht. In 36 Staaten engagieren sich 279 Komitees für die Freilassung von Ingrid Betancourt. 1025 Städte und Gemeinden haben sie seit ihrer Entführung zur Ehrenbürgerin ernannt.

Sie muss geglaubt haben, dass ihr die Guerilla nichts tun würde, am Morgen des 23. Februar 2002. Ingrid Betancourt zählte zu den wenigen Angehörigen der politischen Klasse Kolumbiens, die sich stets für die Fortsetzung des Friedensdialogs eingesetzt hatten. Noch wenige Tage vor ihrer Gefangennahme hatte sie mit FARC-Guerilleros der Süd-Front über mögliche Reformen verhandelt. Ein AP-Foto zeigt eine junge Frau mit gelbem T-Shirt zwischen zwei Comandantes, die auf Gartenstühlen sitzen und lachend in der Broschüre ihrer Partei blättern. 2002 hatte Betancourt im Wahlkampf Viagra verteilt und gefordert, dass Kolumbien „wieder hochkommt“. Die „entmilitarisierte Zone“ galt damals als das sicherste Gebiet des Landes, weil sie nur von einer der zahlreichen Konfliktparteien beherrscht wurde. Frieden, wenigstens ein Waffenstillstand schien möglich, auf den wenigen Quadratmetern Verhandlungsraum im Weiler Los Pozos, nahe San Vicente.

Am Vormittag des 23. Februar machte sich auch der damalige Präsident Andres Pastrana am Flughafen von Florencia bereit zur Reise nach San Vicente, im Hubschrauber. Ihrer Mutter erzählte Ingrid Betancourt am Telefon empört, der Präsident habe sich geweigert, sie mitzunehmen. Sie werde trotzdem fahren, sagte Ingrid: „Mach dir keine Sorgen.“

Um die Mittagszeit brach die Präsidentschaftskandidatin in einem Lieferwagen auf, in Begleitung ihrer Wahlkampfhelferin Clara Rojas, eines Mitarbeiters und zweier Journalisten. Die Polizei hatte ihr dringend von der Fahrt abgeraten und auf die Gefahren hingewiesen. Doch Ingrid Betancourt hat sich während ihrer Kampagnen nie davon abhalten lassen, das Land zu bereisen, weder von Schlagbäumen der Armee noch von den Straßensperren der Paramilitärs oder der Guerilla. Einsätze im Grenzbereich zwischen Mut und Leichtsinn.

Die Fahrt von Florencia nach San Vicente dauert gut drei Stunden, auf mehr oder weniger asphaltierten Straßen, vorbei an grünen, dicht bewaldeten Bergen. Gegen 15 Uhr passierte der Lieferwagen den letzten Kontrollposten der Armee. Der nächste Uniformierte, der den Wagen anhielt, trug Gummistiefel, oft das einzige Unterscheidungsmerkmal zwischen Rebellen und Regierungseinheiten. Er forderte die Gruppe zum Umkehren auf. Es wäre ihre Chance gewesen, die letzte. Ingrid Betancourt stellte sich vor und verlangte, seinen Vorgesetzten zu sprechen. „Sie hat sich bewusst in Gefahr begeben“, sagte der französische Fotograf Alain Keler, der sie begleitete, später in Interviews. „Ihr war klar, dass eine Entführung drohte. Das war verantwortungslos.“

„Wir haben sie“, rief der Vorgesetzte in sein Funkgerät, während er die weißen Fahnen und Presseschilder vom Fahrzeug riss. Als kurz darauf einer der Rebellen auf eine Mine trat, wurde das Auto samt Reisenden beschlagnahmt, um den Schwerverletzten abzutransportieren. „Dieser Krieg ist eine große Scheiße“, soll Ingrid Betancourt geschrien haben. Die Guerilleros ließen die Männer noch in derselben Nacht laufen. An die Freilassung von Ingrid Betancourt und Clara Rojas knüpften die FARC Forderungen.

„Niemand kann auf seine Rechte verzichten, niemand kann auf die Freiheit verzichten, nicht einmal aus Vorsicht.“ Ihre Stimme zittert nicht. Bisher hatten sich Ingrid Betancourts Angehörige vehement gegen eine militärische Befreiung der Geiseln ausgesprochen. In ihrer Video-Nachricht befürwortet sie zwar den Austausch von gefangenen Soldaten gegen inhaftierte Guerilleros der FARC, im Sinne eines Übereinkommens unter Kriegsparteien. Zivile Geiseln aber müssten von den Streitkräften befreit werden, sagt sie – und wählt damit für sich die gefährlichste Variante. „Wenn wir von unseren Soldaten erwarten, ihr Leben für die Verteidigung unserer Rechte und Institutionen zu geben, müssen wir auch bereit sein, unser eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, wenn es uns persönlich trifft.“

Warum die FARC zugelassen haben, dass ihre Geisel öffentlich ihre militärische Befreiung fordert, ist ungewiss. „Eine Rettungsaktion muss erfolgreich sein, oder sie darf nicht stattfinden“, sagt Ingrid Betancourt, Rosen im Rücken, die Hände auf dem Tisch gefaltet. Vielleicht will sie das Symbol sein, an dem die Regierung beweisen muss, dass sie in der Lage ist, ihre Bürger zu schützen, jenseits von starken Worten, in der Praxis. Vielleicht glaubt sie, dass gerade die Erfolgsbedingung jeden Befreiungsversuch verhindern muss, weil der Staat für das Gelingen nicht garantieren kann. Vielleicht setzt sie auf den zweiten Teil ihrer Forderung, ihr politisches Ziel, die Rückkehr an den Verhandlungstisch.

Ingrid Betancourt weiß, was sie mit ihrem Aufruf riskiert. Und sie weiß, was sie von ihrer Familie verlangt. Auf welchen Ernstfall sie ihre Mutter vorbereitet, ihre Kinder, ihren Mann, ihre Schwester. Im vergangenen Mai sind bei einem Befreiungsversuch der Armee alle Geiseln von der Guerilla erschossen worden.

 

3. Emma-Journalistinnen-Preis 2004

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