Mein eigenes Grab

Ich schreibe die ersten Zeilen dieses Texts neben dem Grab, in das eines möglichst fernen Tages meine Asche versenkt werden wird. Bisschen pathetisch vielleicht, so mit dem Laptop auf einer Bank zu sitzen und über sein eigenes Grab zu schreiben. Kommt davon, wenn man als Kind in einen Topf mit Smiths-Songs gefallen ist. »A dreaded sunny day, so I meet you at the cemetry gates.« Schopenhauer and Adorno are on my side.

Seit September bin ich Patin eines Grabs auf dem Frankfurter Hauptfriedhof. Die Vereinbarung mit dem städtischen Grünflächenamt verpflichtet mich dazu, die Grabstätte »einschließlich der denkmalwerten baulichen und gärtnerischen Anlagen zu restaurieren und instand zu halten«. Heißt: Es handelt sich um ein altes Grab mir fremder Menschen, für das in Zukunft ich zuständig sein werde. Ich muss dafür sorgen, dass der Stein nicht umfällt oder von Efeu überwuchert wird, und ich muss irgendwas pflanzen, das nicht zwingend gut aussehen, aber zumindest gestalterischen Willen erkennen lassen muss.

Im Gegenzug räumt mir das Grünflächenamt der Stadt Frankfurt am Main ein »gebührenfreies Nutzungsrecht« für die Grabstätte ein. »Beisetzungsmöglichkeiten bei Abschluss der Vereinbarung: 1 Erdbestattung, 16 Urnen«. Sprich: Ich kann mich und 16 meiner Leute dort bestatten lassen, irgendwann, für umme.

Die Idee ist so brillant, dass ich mich frage, warum ich erst im vergangenen Frühling zum ersten Mal davon hörte. Eine langjährige Freundin war plötzlich verstorben. Dass sie Grabpatin gewesen war, erfuhr ich erst nach ihrem Tod. Ihre Asche befindet sich jetzt am Fuß einer schlanken Stele, versehen mit den Namen von Menschen, die ebenfalls hier liegen, aber schon seit einigen Jahrzehnten tot sind. Das Grabmal selbst darf von Paten nicht verändert werden. Stattdessen stehen zwei gerahmte Bilder meiner Freundin auf dem Sockel. Ich habe blaue Stricknadeln dazugelegt. Wo unter anderen Umständen ein Stein verwittern und das Beet von Unkraut überwuchert werden würde, weil sich keine Angehörigen mehr finden, wächst hier jetzt ein bunter Altar. Und ich dachte: Genau, bildet Banden! Wenn schon tot, dann wenigstens in Gesellschaft.

Auf den 70 Hektar des Frankfurter Hauptfriedhofs, gegründet in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gibt es dafür jede Menge Platz und Gelegenheit. Ende der 1980er-Jahre wurden die Gräber erstmals katalogisiert und 1.259 davon unter Denkmalschutz gestellt. Der großen Namen nehmen sich Vereine und Freundeskreise an. Um die anderen kümmert sich niemand – Gräber von Leuten wie du und ich. Für deren Pflege steht der Stadt jährlich ein Budget von rund 11.000 Euro zur Verfügung. Macht grob gerechnet zehn Euro pro Grab, was bestenfalls für zwei Erika-Sixpacks bei Aldi reicht. Und dann hatte jemand diese großartige Idee: Paten für die Toten suchen. Es gibt das Konzept auch auf anderen Friedhöfen.

Ich gestehe, dass ich ehrenamtlichem Engagement grundsätzlich eher mit Skepsis begegne, jedenfalls da, wo der Staat voraussetzungsvolle Aufgaben an Laien delegiert, um Geld zu sparen. Aber Bürgerinnen und Bürger der Stadt über den Tod hinaus in fürsorglichen Kontakt miteinander zu bringen, das rührt mich. Ohne irgendwem zu nahe treten zu wollen: Ist das Recyceln von Gräbern, earthsharing gewissermaßen, nicht viel toller und zeitgemäßer als der Trend, sich namenlos unter irgendeinem Baum zu entsorgen? Bloß keinem zur Last fallen, der sich um das Grab kümmern muss. Ich habe mich für das Gegenteil entschieden: mich um das Grab von Menschen zu kümmern, denen ich nie begegnet bin.

Die Verstorbenen waren in der Regel deutlich älter als ich

Meine Wahl fiel auf einen Stein, der mich nicht nur aufgrund seiner Größe, sondern vor allem wegen der Schönheit seiner Blessuren beeindruckte. Über meine Paten-Toten wusste ich anfangs nicht viel: »Familie Foucar« steht auf dem Stein, buchstabiert in einer eleganten Art-déco-Schrift. Durch die »Familie« ging ein Riss, das Bein vom M war angebrochen. Die Metallplatten mit den vollen Namen der Toten, vor langer Zeit gestohlen, wie ich später erfuhr, haben blaue Flecken und Spuren von Korrosion auf dem grauen Muschelkalk hinterlassen.

© Karin Ceballos Betancur

Genau genommen haben wir das Grab zusammen entdeckt: mein Mann, die Mutter seines Kindes, D., und ich, an einem Tag im Mai, als wir zusammen auf den Friedhof gingen, um uns das Grab der verstorbenen Freundin zeigen zu lassen. Mein Mann und ich konnten bei der Trauerfeier nicht dabei sein.

Wenn ich früher auf den Friedhof ging, war der Anlass meistens eine Beerdigung, und ich konnte es kaum erwarten, den Ort wieder zu verlassen. Der Tod ließ sich damals noch leicht auf Abstand zu meinem Alltag halten. Die Verstorbenen waren in der Regel alt, deutlich älter als ich jedenfalls. Ich trauerte, aber die Kerben, die die Toten in mein Leben schlugen, heilten mit der Zeit von ganz allein.

Seit einiger Zeit gelingt mir das nicht mehr. Heute, mit Anfang 50, fällt es mir deutlich schwerer, die Toten gehen zu lassen. Mir ist auch wichtiger geworden, sie zu besuchen. Ich bin gern auf dem Frankfurter Hauptfriedhof, wo es sich inzwischen anfühlt wie zuletzt mit 17 in meiner Stammkneipe: Es ist immer jemand da, den ich kenne.

Wir zogen also unsere Runde über den Friedhof, machten halt bei der gerade verstorbenen Freundin, bei einem Freund, der neben jemandem bestattet ist, dem seine Erben die Grabinschrift »Genialer Physiker und Erfinder« gegönnt haben, bei meinem Stiefschwiegervater, einem tatsächlich genialen Psychoanalytiker, und schließlich bei meiner Oma. Sie liegt in zweiter Reihe hinter den Foucars. Die Entscheidung für die Patenschaft fiel leicht. Ich war schon immer gern bei Oma.

Aber ich will eben auch meine Leute um mich herum haben. Und eines möglichst fernen Tages kurze Wege für meine sozialen Kinder. Ich bin Teil einer Patchworkfamilie, an der wir alle ebenso liebevoll wie hartnäckig seit zwei Jahrzehnten kneten. Umso weniger möchte ich nach meinem Tod zurück in die biologische Wabe sortiert werden. Ich will Menschen um mich haben, verwandt oder nicht, die mir heute nah sind und für immer gewesen sein werden. Auf diese Weise kamen zusätzlich zu D. und ihrem Freund M., den zwei anderen der vier Eltern meines Stiefsohns, auch noch T. und S. dazu.

Zwar schließt das Grünflächenamt den Patenvertrag mit nur einer Person ab, aber mir war wichtig, dass wir viele sind, nicht nur wegen des Gießens im Sommer. Außerdem ist ja genug Platz, 16 + 1.

T. und S. waren spontan begeistert. Beide sind vor allem mit mir eng verbunden, aber ich war sicher, dass auch die anderen gut mit ihnen klarkommen würden, jetzt und dann. An einem warmen Abend im August trafen wir uns in einem Apfelweinlokal, sprachen ein bisschen über Pflanzen (Konsens: keine Erika) und das Jenseits. Wir einigten uns darauf, zusammen dieses Grab zu pflegen und so dem Tod, dem Arsch, etwas entgegenzusetzen, ein Pfund Ästhetik, Zusammenhalt und Freundschaft nämlich! Dann stießen wir gemeinsam an, auf die Zeit bis dahin.

Abdrücke deutscher Geschichte

Ein paar Tage später bin ich mit einem Mitarbeiter des Grünflächenamts verabredet, um die Grabakte einzusehen. Paten dürfen das. In der Apfelweinkneipe hatten wir uns neben der Absage an Erika auch darauf verständigt, nicht mit Nazis begraben sein zu wollen, deshalb bin ich ein bisschen nervös. Außer dem Namen wissen wir noch immer so gut wie nichts über die Familie Foucar. Der Mitarbeiter drückt mir zwei Mappen in die Hand, altdeutsch beschriftet, Grabstätte Gewann 1 Nr. 143 und 142, und lässt mich in der Teeküche Platz nehmen. Zum ersten Mal lese ich die vollen Namen meiner Paten-Toten:

Lisette Johanna Foucar 1854–1908

Henriette Marie Emilie Foucar 1840–1921

Heinrich Wilhelm Foucar 1837–1922

Georg Albert Foucar 1859–1927

Dr. Georg Foucar 1870–1945

Sofie Reuel 1860–1943

Dr. Friedrich Reuel 1883–1960

Henriette Reuel geb. Foucar 1891–1987

Ich stoße auf eine Skizze des Grabs, die einen Stempel des Friedhofsamts vom 8. Dezember 1908 trägt. Da war Lisette seit 42 Tagen tot und meine Oma noch kein Jahr alt. Der Entwurf sah vier »Blumenbehälter aus Eisen mit Kupfereinsatz« vor, von denen heute jede Spur fehlt. Ebenfalls am 8. Dezember 1908 nahm laut Aktenvermerk »Dienstmädchen Frl. Kasper« die Postzustellungsurkunde der städtischen Friedhofskommission entgegen. Wohnort: Oberlindau 65 II. Fast bei mir um die Ecke. Ich scanne die Akte und setze die Suche daheim am Rechner fort.

Lisettes Schwägerin Henriette heiratete Lisettes Bruder Heinrich im Alter von 18 Jahren, 1859, in Bockenheim. Der erste gemeinsame Sohn Georg Albert kommt wenige Monate später zur Welt. Pikant. Und aber auch sympathisch. Die Kosten für seine Trauerfeier am 7. Juli 1927 um 10 Uhr belaufen sich auf 314 Mark (Orgelspiel 5 Mark, Schmücken der kleinen Halle 20 Mark, Blumenkörbchen 3 Mark).

Es sind nur Bruchstücke, die sich den Akten und dem Onlinearchiv der Stadt Frankfurt entnehmen lassen, aber sie tragen die Abdrücke deutscher Geschichte.

1939 wendet sich das Friedhofsamt an Dr. Georg Foucar, wohnhaft in Grünwald im Isartal, Horst-Wessel-Str. 49. »Auf der oben bezeichneten Grabstätte befindet sich eine eiserne Einfriedung. Zur Verschönerung des Friedhofs und im Hinblick auf die allgemeinen Bestrebungen, alle überflüssigen eisernen Gitter für Zwecke der Landesverteidigung zur Verfügung zu stellen, empfiehlt es sich, die Eiseneinfriedung zu entfernen. Die Friedhofsverwaltung ist zur kostenlosen Entfernung gerne bereit.«

Dr. Foucar, der seine Schreiben »mit deutschem Gruß« unterzeichnet, hat einen einzigen Nachkommen, Kurt Georg, der 1941 fällt. Am 11. Januar 1943 beantragt Henriette Reuel, geborene Foucar, die Beisetzung der Asche ihrer Schwiegermutter, Sofie Reuel. Neun Jahre später bittet sie um die Fällung eines Baums. Das Friedhofsamt antwortet: »Auf Ihren Antrag vom 3. 1. 1952 bei der Verwaltung des Hauptfriedhofs teilen wir mit, daß wir den Baum hinter vorgenannter Grabstätte noch nicht entfernen können, da durch Kriegseinwirkung im angrenzenden Gräberfeld eine große Baumlücke entstanden ist. Bei genügender Größe der nachgepflanzten Bäume in diesem Feld wird dann der während des Krieges stark geschädigte Baum entfernt. Wir bitten bis dahin um Geduld.« Feststellungsbericht vom 19. Mai 1952: »Die Buche hat durch Bombensplitter die Spitze verloren und treibt unten stärker aus.« Notiz vom 10. Februar 1959: »Buche entfernt.«

Das ist Endlevel-Patchwork

Ich weiß nicht, welche Sorte Baum es ist, deren Zweige wir an einem Morgen im September zurückschneiden, um unseren Stein ein bisschen mehr ins Licht zu rücken. Mein Mann hat Klebstoff dabei, um das Bein vom M der »Familie« wieder ordentlich zu befestigen. D. und ich rupfen Efeu vom Stein, graben die Erde um. Ich bemühe mich, nicht vorne links aufzutreten, wo laut Aktenvermerk Henriettes Kupferurne ruht.

Henriette Reuel, geb. Foucar, Beruf: Hausfrau, Religion: katholisch, Staatsangehörigkeit: deutsch. Todeszeitpunkt laut »Bescheinigung über die Beurkundung eines Sterbefalls«: 19. 4. 1987, 5 Uhr 00, in Frankfurt am Main. Todesart: natürlicher Tod. Todesursache: Herzversagen. Sie war die Letzte.

Die Sonne scheint, es ist noch warm, die Vögel zwitschern, und mein Mann, die Mutter seines Kindes und ich schaufeln unser Grab. Ich glaube, mehr geht nicht. Das ist Endlevel-Patchwork, und ich muss aufpassen, dass ich nicht anfange zu heulen.

Wir verbringen einen halben Tag damit, den Stein zu schrubben, neue Erde aufzubringen, eine Rose zu pflanzen. Eine weitere halbe Stunde geht dafür drauf, zu befinden, dass die Rose 20 Zentimeter zu weit links sitzt, sie wieder auszugraben und neu zu pflanzen. Mehrheitsvotum. Gemeinschaft macht Arbeit. Aber sie bringt halt auch viel Liebe. Am Mittag holt mein Mann Pizza. Für den Nachmittag hat D. Kaffee und Kuchen dabei. S. stößt später zu uns. Er war verhindert und beglückwünscht uns euphorisch zu unserem Einsatz. Ein älteres Paar kommt den asphaltierten Weg herunter. Sie sagen, sie hätten sich schon an einer anderen Stelle auf dem Friedhof eingekauft. »Schad’, bei Ihne’ wär’s schöner.«

Vor einigen Jahren saß ich auf einem Friedhof in Mexiko auf einem Grabstein, am Tag der Toten. Traditionell kommen dort am 2. November, Allerseelen, die Familien zusammen, um gemeinsam mit den Toten deren Besuch auf Erden zu feiern. Die Gräber sind mit Blumen geschmückt, Menschen essen und trinken, auf den Knochen ihrer Ahnen. Kerzen brennen. Ich habe die Mexikaner um diese trotzige Verbundenheit immer beneidet.

Im Herbst hat mein Mann im Baumarkt eine billige Gartenbank besorgt. Sie lehnt hinter dem Grabstein, um nicht den Zorn des Friedhofsamts auf sich zu ziehen. Wir haben eine WhatsApp-Gruppe gegründet. Sie heißt: les amis fous. Wer Zwiebeln pflanzt, lässt es die anderen auf diesem Kanal wissen. Manchmal treffen wir uns am Sonntag spontan zum Kaffeetrinken am Grab. Dann ziehen wir die Bank hinter dem Stein vor, wärmen uns die Hände an Kaffeebechern, reden über dummes und nicht so dummes Zeug und lachen. Ich lerne den Ort zu lieben, wir alle tun das. Es war nicht abgesprochen, aber wir pumpen ihn auf mit Freude, Unbeschwertheit und schönen Erinnerungen, die denen, die bleiben, helfen werden, eines möglichst fernen Tages.

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