kilometer 158

 

Kein Ding für Rainer, wenn Holger sich nicht meldet. Solange man nichts hört, geht’s ihm gut. Oft gibt es da, wo er gerade ist, halt einfach kein WLAN, und meistens ist Holger gerade dann am glücklichsten. Das war es ja, was er wollte. Vor vier Jahren hat Holger Franz alles verkauft, was er besitzt, seinen Job als Krankenpfleger und sein WG-Zimmer gekündigt. Seitdem fährt er durch die Welt auf einem Fahrrad, das er selbst zusammengebaut hat, ein schwarzer Stahlrahmen mit braunem Sattel, Modell Brooks B17 Select.

 

Illustration: Adams Carvalho

 

Am 28. April, der ein Samstag ist, erhält Holgers älterer Bruder, Rainer Hagenbusch, eine Facebook-Nachricht von zwei deutschen Radfahrern: Wir sind in Mexiko und standen in den vergangenen Wochen mit Holger in Kontakt, aber wir vermissen ihn seit acht Tagen. Er sei zuletzt in Chiapas gewesen, im Süden des Landes, zwischen San Cristóbal und Palenque.

Was heißt das, ihr vermisst ihn?

Wir wissen auch nicht mehr, er ist einfach verschwunden.

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Am Anfang wollte Holger nur bis Teheran. Einen Tag nach seinem 39. Geburtstag, am 3. Mai 2014, brach er mit dem Fahrrad auf. Er fuhr durch Deutschland, Tschechien, Polen und die Slowakei, durch Ungarn, Bulgarien, Ex-Jugoslawien, Albanien und Griechenland. Kurz hinter Istanbul erfuhr er, dass der Vater schwer erkrankt war. Holger flog nach Hause. Der Vater starb im Februar 2015. Die Geschwister, Holger, Carmen und Rainer, brachten die Mutter in einem Pflegeheim unter und verkauften das Elternhaus. Im Frühling flog Holger zurück in die Türkei, um seine Reise fortzusetzen. Er sprach jetzt nicht mehr darüber, wo sie enden würde, er fuhr immer weiter. Georgien, Armenien, Iran, Kasachstan, Usbekistan, China.

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Rainer Hagenbusch, geborener Franz, lebt mit seiner Frau und den beiden gemeinsamen Kindern in der Nähe von Freiburg. Er weiß nicht, was man macht, wenn ein Mensch verschwindet.

Rainer ruft bei der Polizei an. Er sagt: Mein Bruder wird in Mexiko vermisst, was soll ich tun? Man rät ihm, sich an das Auswärtige Amt in Berlin zu wenden. Das Auswärtige Amt verweist ihn an die deutsche Botschaft in Mexiko-Stadt, es gebe eine Notfall-Hotline.

Mein Bruder wird vermisst, seit dem 20. April, er heißt Holger Franz.

Ja, der Fall ist uns bekannt.

Wie, der Fall ist Ihnen bekannt??

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Das Erste, was auf Fotos von Holger ins Auge fällt, ist sein Lächeln. Es ist strahlend und weiß und sieht aus, als habe er ein paar Zähne mehr im Mund als andere Menschen. Ein Mann mit Bart und sehr blauen Augen. Früher war er als Wikinger auf Mittelaltermärkten unterwegs, Reenactment-Szene, neuntes, zehntes Jahrhundert. Freunde beschreiben ihn als einen, der die Blicke auf sich zieht, wenn er einen Raum betritt, charismatisch, herzlich, aufmerksam. Holger ist ein guter Erzähler, seine Abenteuer sind seine Währung. Wenn ihn unterwegs jemand auf eine warme Mahlzeit einlädt, ihn auf dem Sofa übernachten lässt, revanchiert er sich für die Gastfreundschaft mit einer Geschichte.

In Laos musste er 2016 den hinteren Reifen wechseln. In Thailand verbrachte er eine Nacht im Zelt und 26 Nächte in Häusern. In Kambodscha beliefen sich seine täglichen Ausgaben auf 12,20 Euro. In Vietnam fuhr er im Tagesdurchschnitt 76 Kilometer. So steht es in seinem Blog, Holger mag Statistiken.

Von Shanghai mit dem Containerschiff nach Kanada, dann Alaska, Ostküste, Rust-Belt, Great Plains, Rocky Mountains, Pazifikküste. Im Dezember 2017 überquerte Holger in Tecate, 50 Kilometer östlich von Tijuana, die Grenze zu Mexiko. »Wenn nur ein Hauch von dem stimmt, was jeder hier erzählt, bin ich auf dem Weg ins gefährlichste Land der Welt«, schreibt er. »Aber das hat bisher eigentlich jeder von seinem Nachbarland erzählt. Ich bin gespannt.« 

Holger ist nicht auf Facebook. Schwer zu sagen, wie viele Menschen er im Laufe seiner Reise kennengelernt hat, es müssen Hunderte sein. Am Strand von Puerto Vallarta traf er Michael Meurer, einen US-Amerikaner, der mehrere Monate des Jahres in Mexiko verbringt. Meurer sagt, ihm sei nie ein fröhlicherer Mensch begegnet als Holger.

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Die Mitarbeiterin der deutschen Botschaft teilt Rainer Hagenbusch am Telefon mit, ein Amerikaner, Michael Meurer, habe Holger Franz am 25. April als vermisst gemeldet. Er hätte am Abend des 23. bei einer Bekannten Meurers in Ciudad del Carmen eintreffen sollen, sei dort aber nie angekommen.

Warum man die Familie nicht darüber informiert habe, will Rainer wissen.

Es handele sich bisher nicht um einen offiziellen Fall, weil die Meldung nicht durch einen Angehörigen erfolgt sei.

Also: Ich vermisse einen Deutschen, meinen Bruder, Holger Franz, was soll ich tun?

Kurz darauf meldet Rainer bei Facebook die Seite »Busqueda / Suche Holger Franz« an. I need your help to find my brother. Am Abend mailt ihm eine Ingrid aus Hamburg. Sie bietet an, die Facebook-Seite für ihn zu verwalten, Nachrichten zu sichten und die wichtigsten zu übersetzen. Rainer kann kein Spanisch. Ingrids Mann, ein Mexikaner, wurde vor ein paar Jahren entführt. Seit seiner Freilassung lebt die Familie in Deutschland. Ingrid hilft Rainer vor der Arbeit, nach der Arbeit und am Wochenende. Die beiden sind einander bis heute nie persönlich begegnet.

Zahllose Kommentare gehen ein, Hinweise, die sich als falsch erweisen, Solidaritätsbekundungen. Es stellt sich heraus, dass in derselben Gegend ein zweiter Europäer vermisst wird: Krzysztof Chmielewski, 37, polnischer Staatsbürger. Auch er war seit Jahren mit dem Fahrrad auf Reisen.

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Krzysztofs letzter Facebook-Eintrag stammt vom 19. April, gepostet in Tuxtla, der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaats Chiapas. Ein Foto zeigt ihn vor dem Anhänger seines Fahrrads sitzend, an dem die polnische und die mexikanische Fahne stecken. Er trägt ein schwarz-weiß gestreiftes Trikot.

Holgers letzte Sprachnachricht stammt vom 20. April, verschickt an Vero, eine Freundin in Mexiko-Stadt, er spricht Englisch: »Ich habe San Cristóbal verlassen und bin auf dem Weg nach Palenque. Wenn ich mir die Pyramiden und Ruinen angesehen habe, fahre ich weiter nach Ciudad del Carmen.« Die Bekannte eines Bekannten, sagt er, habe ihm ihre Wohnung überlassen. »Das ist toll, zumal ich ihr noch nie begegnet bin, aber sie vertraut mir. Das ist gut, ich bin ein vertrauenswürdiger Typ.« Holger lacht. »Also werde ich die Woche in Ciudad del Carmen genießen, mich ausruhen, an den Strand gehen und meinen Bikini tragen – ha!« 

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Am 26. April um 21.45 Uhr wird am Rande der Bundesstraße 199, die San Cristóbal mit Palenque verbindet, bei Kilometer 158, in Höhe der Ortschaft Ocosingo, auf einer wilden Müllkippe die Leiche eines Mannes gefunden. Sie ist bekleidet mit einem schwarz-weiß gestreiften Trikot und liegt bäuchlings auf einem Fahrrad mit schwarzem Rahmen und braunem Sattel.

Während Rainer Hagenbusch seinen Bruder bei der Polizei Freiburg als vermisst meldet, veröffentlicht die mexikanische Bundespolizei ein Video im Netz. Der leitende Staatsanwalt Arturo Pablo Liévano Flores erklärt darin, beim Toten von Kilometer 158 handele es sich wohl um den polnischen Staatsbürger Krzysztof Chmielewski. Todesursache sei ein Schädel-Hirn-Trauma, vermutlich herbeigeführt durch einen Autounfall. Es gebe keine Anzeichen für ein Gewaltverbrechen.

Einen Tag später meldet sich Juanjo Gutiérrez, ein ehemaliger Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft Tuxtla, heute freier Journalist, per Facebook bei Ingrid. Er habe einen Freund, der Krzyś flüchtig kannte, zur Staatsanwaltschaft begleitet und Fotos der Leiche von Kilometer 158 gesehen. Sie sei enthauptet, außerdem fehle ihr der rechte Fuß, ein sauberer Schnitt, wie mit einer Machete.

Staatsanwalt Liévano habe auf seine Nachfrage erklärt, der Kopf sei wohl beim Sturz abgetrennt worden. Doch Gutiérrez zufolge weist der übrige Körper keine Frakturen auf. Den Fuß, so Staatsanwalt Liévano, habe vermutlich ein Puma gefressen. Gutiérrez zweifelt: samt Knochen? Und warum hat das Tier die Eingeweide verschmäht? Raubtiere seien eben wählerisch, habe Staatsanwalt Liévano erklärt, und wer seien wir, ihre kulinarischen Vorlieben zu hinterfragen.

Der Journalist hält einen Autounfall für ausgeschlossen. Kurz darauf veröffentlicht er seinen Bericht, in dem er den leitenden Staatsanwalt Arturo Pablo Liévano Flores der Lüge bezichtigt, auf Facebook. Er weiß, dass er sich damit in Lebensgefahr begibt. In keinem Land der Welt außer Afghanistan werden so viele Journalisten ermordet wie in Mexiko. 90 Prozent der Fälle werden nie aufgeklärt.

Freigericht ist eine Kleinstadt in Hessen, nahe der bayerischen Landesgrenze. Es gibt fünf Orchester sowie einen Spielmanns- und Fanfarenzug. Im Haus, in dem sie selbst geboren wurde, hat Mutter Franz ihre drei Kinder großgezogen, die alle sieben Jahre zur Welt kamen: 1961 Rainer, 1968 Carmen, 1975 Holger. Sieben Jahre später, 1982, wird Rainer zum ersten Mal Vater. Wenn seine Tochter Anna später am Wochenende bei der Oma übernachtet und morgens in die Küche geht, kommt Holger oft gerade erst vom Feiern nach Hause. Sie essen Nutellabrote. Er ist mehr großer Bruder als Onkel für sie.

Rainer und Anna haben seit mehr als zehn Jahren keinen Kontakt. Das Verhältnis zwischen Vater und Tochter ist schwierig. Aber als sie hörte, dass Holger vermisst wird, habe sie geahnt, was passieren würde, sagt Anna. Und wenig später klingelte das Telefon.

Rainer hält das Warten nicht mehr aus. Zu seiner Frau sagt er: Marion, ich flieg nach Mexiko. Hier stimmt was nicht. Ich werd verrückt, ich muss da hin. Er ruft Anna an und fragt, ob sie ihn begleiten will. Anna besorgt die Flugtickets, Rainer besorgt Geld, Ingrid informiert mexikanische Medien.

Am Freitagabend, kurz vor ihrem Abflug, meldet sich die deutsche Botschaft. Es wurde eine zweite Leiche gefunden, Knochenreste, skelettiert.

 

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