Vor 70 Jahren starb der Philosoph Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nazis. Ein Wanderweg durch die Pyrenäen folgt seinen Spuren
erschienen im September 2010 in DIE ZEIT
Früh am Morgen, wenn die Sonne die Plattform hinter dem Friedhof am Hang mit Nektarinenlicht flutet, werden selbst die kargen Pyrenäen weich. Portbou, der Tatort, das spanische Dorf an der Bucht, liegt im Schatten versunken. Nur der Kirchturm ragt heraus, ein paar Dächer, Antennen, der riesige Bahnhof. Züge stolpern über Weichen. Vögel zwitschern in Olivenbäumen. Die Gräber der Toten gehen aufs Meer. Ein Moment von ungerechter Schönheit.
Die meisten Reisenden kennen Portbou bestenfalls von einem kurzen Aufenthalt beim Umsteigen, zwischen zwei Zügen. Zweimal in der Geschichte aber war der Ort mehr als irgendein Kaff an der spanisch-französischen Grenze. 1939, am Ende des Bürgerkriegs, wurde er zum Nadelöhr für die besiegten Republikaner, auf ihrer Flucht ins Exil. Ein Jahr später, 1940, nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich, setzte sich erneut ein Flüchtlingsstrom in Bewegung in entgegengesetzter Richtung. Hitlers Truppen trieben die deutsche Emigration vor sich her, in Richtung Süden.
Man kann versuchen, die Erinnerung an alte Fotografien wie Folien über dieses Panorama zu legen. Auf die ockerbraunen Hügel die schwarz-weißen Karosserien umgestürzter Automobile. Auf die Landstraße, die sich in langen Kurven bergauf windet, einen schwarz-weißen Strom von Menschen. Für viele führte der Weg über Portbou damals in die Freiheit. Das Dorf hätte zu einem Symbol der Rettung werden können. Stattdessen lastet der Selbstmord eines Mannes wie Blei auf seiner Geschichte. Seine Leiche wurde auf dem Friedhof bestattet, umgebettet und ging später in einem Massengrab verloren. Walter Benjamin, Philosoph und Kritiker, geboren am 15. Juli 1892 in Berlin, gestorben am 26. September 1940 an einer Überdosis Morphium in Portbou, Katalonien.
Sein Exil hatte 1933 begonnen, mit der Auswanderung nach Paris. 1940, erneut auf der Flucht vor Hitlers Truppen, versuchte er in Marseille erfolglos, sich als französischer Matrose verkleidet auf einem Frachter einzuschiffen. Das Institut für Sozialforschung hatte ihm ein Visum für die USA besorgt. Auch verfügte Benjamin über die nötigen Transitvisa für Spanien und Portugal. Was fehlte, war die Ausreiseerlaubnis für Frankreich – seinerzeit heikel zu beschaffen, weil das Vichy-Regime nicht wenige Antragsteller direkt an die deutschen Besatzer auslieferte.
An einem späten Abend im September 1940 klopft ein Mann mit grauem Haar, dichtem Schnauzbart und runder Brille an der Haustür der deutschen Exilantin Lisa Fittko in der Avenue Puig del Mas Nr. 16, Banyuls-sur-Mer. „Gnädige Frau, entschuldigen Sie bitte die Störung, hoffentlich komme ich nicht ungelegen.“ In ihren Memoiren schrieb Fittko später: Die Welt gerät aus den Fugen, dachte ich, aber Benjamins Höflichkeit ist unerschütterlich . Zusammen mit ihrem Mann hat Lisa Fittko, als Jüdin selbst vom Naziregime verfolgt, in den Jahren 1940/41 Dutzenden von Flüchtlingen über die grüne Grenze nach Spanien geholfen, ehe auch sie aus Europa fliehen mussten.
Die Zugfahrt von Portbou nach Banyuls dauert zehn Minuten. Vor einem Jahr erst wurde der genaue Verlauf der Fluchtroute rekonstruiert, auf Grundlage historischer Dokumente. Seitdem trägt der alte Schmugglerpfad den Namen Ruta Walter Benjamin, gelb markiert in Frankreich, bordeauxrot in Spanien. Sie beginnt am Strand von Banyuls, wo am Mittag Familien in der Sonne braten und auf Tischen im Schatten von Platanen die schweren Weine der Region in Gläsern dämmern. Die Fittkos trafen sich mit ihren Schützlingen im Morgengrauen am Stadtrand. Am Ortsausgang von Banyuls, nachdem man den silbernen kleinen Fluss überquert hat, führt der Weg durch Puig del Mas. Heute parken Autos im trockenen Flussbett. An der Brücke weist ein erstes Schild den Weg. Die Sonne steht hoch hinter Schleierwolken. Wenn wir mit den Weinbauern morgens vor Sonnenaufgang, zwischen vier und fünf Uhr, aus dem Dorf in die Hügel hinaufziehen, wenn wir uns in nichts von ihnen unterscheiden, kein Gepäck tragen – et surtout pas de rucksack! (der Rucksack ist das sprichwörtliche Kennzeichen der Deutschen) –, dann kann kein Gendarm und kein Zöllner uns von den Einheimischen unterscheiden.
Eine Frau Gurland und ihr Sohn hatten Benjamin nach Banyuls begleitet, auch sie auf der Flucht vor den Nazis. Gemeinsam war die Gruppe schon am Vorabend in die Berge gewandert. Lisa Fittko ging den Weg zum ersten Mal und wollte sich zunächst orientieren. Benjamin soll eine schwere Aktentasche bei sich gehabt haben. Er war damals 48 Jahre alt, herzkrank. Dennoch ließ er nicht von seinem schweren Gepäck. „Wissen Sie“, erklärte er, „diese Aktentasche ist mir das Allerwichtigste. Ich darf sie nicht verlieren. Das Manuskript muss gerettet werden. Es ist wichtiger als meine eigene Person.“ Als die Gruppe am späten Nachmittag umkehrte, blieb Benjamin auf einer Lichtung in den Bergen zurück. Er wolle die Nacht im Freien verbringen, sagte er, und hier am nächsten Morgen auf sie warten. Benjamin fürchtete, die Strecke nicht am Stück bewältigen zu können.
In Puig del Mas zweigt der Weg an einem Parkplatz ab vom Asphalt. Treppen führen steil hinab, vorbei an Brombeerbüschen und Olivenbäumen. Auf einer Anhöhe lesen Arbeiter Trauben in den Weinbergen. Sie werden die letzten Menschen sein, denen die Wanderin an diesem Tag bis zur Ankunft in Portbou begegnet. Keine Ausflügler, keine Benjamin-Pilger. Nur hin und wieder ein gelber Balken auf dem Fels, auf einer Baumrinde, ein Schild, das ihr versichert, nach wie vor auf dem richtigen Weg zu sein, der sich durch die Weinberge windet, zwischen Rebstöcken hindurch, die voll von beinahe reifen, dunklen, süßen Banyuls-Trauben hingen, über Bergkämme, spärlich von Büschen und Bäumen beschattet, hinauf in die Pyrenäen. Im Rücken schrumpft Banyuls im Streulicht des Mittags zu einem Fleck am Horziont, dahinter das unwirkliche blaue Meer und die Bergketten mit den grünen Weinbergen, dazwischen schon etwas Gold, und ein Himmel so blau wie das Meer. Man kann es nicht schildern, man muss dort gewesen sein. Immer steiler steigt der Weg an, über Felsen und Geröll, vorbei an einem kirchturmhohen Strommast. Steingraue Grillen springen durch den Staub.
An einer Wegbiegung in der Ferne sind Piniengruppen zu erkennen. Fittko erwähnt sie in ihrem Bericht als Richtungsweiser, aber es werden nicht dieselben sein. Oft brennt es hier im Sommer, wenn die Sonne über Monate jeden Busch zu stacheligem Gestrüpp dörrt und die trockene Erde unter den Sohlen splittert. Angeblich hat die Gruppe an einer Quelle, auf etwa einem Drittel der Route gerastet. Noch heute rinnt die Font del Bana als dünner Strahl aus dem Fels, hummelumsummt. Drei Stunden Wanderung und noch immer Banyuls im Rücken. Auf der Rückseite der Wegtafel hat jemand die Inschrift „quel beau pays …“ hinterlassen, was für eine schöne Landschaft. Der Begriff „Weg“ wurde nun mehr und mehr zur Übertreibung. Dann und wann war ein Pfad zu sehen, häufiger aber war es nur eine kaum erkennbare Spur zwischen den Geröllblöcken . Die letzten Meter zum Gipfel in 550 Metern Höhe stechen wie Meilen in den Waden. Und dann, irgendwann, endlich kommt Wind auf. Erst leicht, dann immer stärker, um oben, mit voller Kraft die schweißnasse Haut zu trocknen. Weit unten, von wo wir gekommen waren, sah man wieder das tiefblaue Mittelmeer. Auf der anderen Seite, vor uns, fielen schroffe Klippen ab auf eine Glasplatte aus durchsichtigem Türkis – ein zweites Meer? Ja, natürlich, das war die spanische Küste. Hinter uns, im Norden, im Halbkreis, Kataloniens Roussillon mit der Côte Vermeille, der Zinnober-Küste, einer herbstlichen Erde mit unzähligen gelb-roten Tönen. Ich schnappte nach Luft. Solche Schönheit hatte ich noch nie gesehen.
Keine Schranke, kein Zaun, kein Stein markiert die Grenze zwischen Frankreich und Spanien, die doch irgendwo hier oben entlang des Bergkamms verläuft, den karstigen Grund in französisches und spanisches Territorium teilt. Ein Schild weist nach Portbou, das unten, hinter dicken Bergfalten liegt. Man kann von hier den Kirchturm erkennen und den Bahnhof, die blauen Buchten von Colera und Llançà. Unvermeidlich ist der Abgleich der eigenen Erleichterung mit dem Gefühl, das die Flüchtlinge bei diesem Anblick empfunden haben müssen. Über den Berg. Das stechende Weiß von Banyuls aus den Augen. Hoffnung und die Illusion naher Rettung, Sicherheit.
Auf spanischer Seite fällt der Weg steil ab. Irgendwo hustet eine Herde Ziegen, die sich leichtfüßig in höhere Regionen verzieht, wenn man ihr zu nahe kommt. Anders als in Frankreich, wo die Beschilderung der Route die nur dünnen historische Fakten vermittelt, stehen in Spanien Benjamins Worte in der Landschaft, in vierfacher Übersetzung. „Die Menschheit soll versöhnt mit ihrer Vergangenheit scheiden – und eine Form des Versöhntseins ist die Heiterkeit.“ Ein Zitat aus dem Passagen-Werk. Die Wanderin erreicht Portbou am frühen Abend.
Zahllose Flüchtlinge haben sich in jenen Jahren auf diesem Weg über die Pyrenäen in Sicherheit gebracht. Ausgerechnet Walter Benjamin jedoch untersagten die spanischen Behörden die Weiterreise. Eine neue Verfügung, hieß es. Er muss überzeugt gewesen sein, die Flucht über die Berge kein zweites Mal zu überstehen.
Das Hotel, in dem er sich das Leben nahm, hat die Verwaltung später kaufen wollen, ohne genaue Vorstellung davon, wie museal damit zu verfahren wäre. Aber der geforderte Kaufpreis war ohnehin zu hoch. Jetzt ist das Sterbezimmer Teil einer Eigentumswohnung. Gegenüber der karmesinroten Fassade probieren Touristen in einem Kramladen Sonnenbrillen.
Über seine letzten Stunden in Portbou ist wenig bekannt, manches widersprüchlich. Frau Gurland, Benjamins Begleiterin, will viele Stunden nach der Einnahme des Morphins noch mit dem Sterbenden gesprochen haben – was Mediziner schlechterdings für unmöglich halten. Und warum ließ der katholische, franquistische Priester die Bestattung Benjamins, eines jüdischen Selbstmörders, auf dem Dorffriedhof zu? Fragen, die man niemandem mehr stellen kann. Die Zeitzeugen sind längst verstorben. Laut Behördenprotokoll fand man beim Toten eine Mappe „con unos papeles mas de contenido desconocido“, mit Papieren unbekannten Inhalts. Benjamins letztes Manuskript ist verschollen.
Am Abend fegt der Tramontana in Böen über die Plattform hinter dem Friedhof von Portbou. Das Monument des israelischen Künstlers Dani Karavan, zu Benjamins Gedenken errichtet, soll bald renoviert werden. Steine haben die Glasplatte am Ende des Tunnels, der durch den Fels aufs Meer führt, zersplittert. Über den Rissen ein letztes Zitat: „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“ Und obwohl es kaum zu glauben ist, malt die untergehende Sonne einen Regenbogen ans untere Ende der Wolken.