kloaken unendlicher traurigkeit

Eine Hommage zum neunzigsten Geburtstag des argentinischen Schriftstellers Ernesto Sabato

Der junge Mann reiste ab Im Gefühl, dass Ihm ein Idol gestorben war. Er hätte nicht kommen sollen. Zwar würde er die Bücher wieder lesen, die – vermutlich abgestoßen, fett geblättert, in Auflösung begriffen – im Regal seiner – vermutlich kleinen, engen, irgendwie existentialistischen – Studentenwohnung irgendwo in Frankreich standen: drei Romane, erschienen im Abstand von jeweils 13 Jahren, Essays, ein paar Zeitungsausschnitte vielleicht. Aber es würde nie wieder sein wie vor seiner Reise nach Buenos Aires. Nie wieder würde er das Bild des Autors mit liebevoller Verehrung betrachten können, die traurigen Augen hinter dunklen Brillengläsern, die Stirn, besiegt von Furchen der Jahre und der Qual. Eine Seele, die sich des Körpers als Ausdrucksmittel bedient, dem sie ihr Streben und Fühlen aufprägt in den Falten des Gesichts, im Leuchten der Augen, im Lächeln und in der Bitterkeit der Mundwinkel. Und Bitterkeit tropfte aus der zurückgewiesenen Liebe des jungen Mannes wie stinkender Saft der Zersetzung, vergällte ihm die letzten Tage in der Stadt seines Helden. Es ist unwahrscheinlich, dass er Souvenirs mit nach Europa nahm.

Die Geschichte vom jungen Franzosen, der nach Argentinien kam, um sein Idol, den Autor Ernesto Sabato zu treffen, erzählt Hilda in einer Herberge im Stadtteil San Telmo, wenn über Buenos Aires die Wolken bersten und der Regen die Bewohner unter Hausarrest stellt, Tage, an denen das Wetter dem Porteno die Einsamkeit und Traurigkeit noch fühlbarer macht, wenn er durch die angelaufene Fensterscheibe eines Cafes auf die Straße blickt und murmelt: »Was für ein Wetter, Carajo, was für ein Schweinewetter«, während einer, der tiefer veranlagt ist, denkt: welch unendliche Traurigkeit. Im Fernsehen an der Calle Carlos Calvo läuft ein amerikanischer Spielfilm, kein Mensch im Parque Lezama, fünf Straßen weiter, wo sich Martin del Castillo und Alejandra Vidal, Protagonisten des Sabato Romans Sobre heroes y tumbas (Über Helden und Gräber) zum ersten Mal begegnen.

Was passiert ist, hat der Franzose Hilda nie erzählt. Seit seiner Ankunft hatte er versucht, Sabato in seinem Haus im Vorort Santos Lugares zu erreichen, und das Gasthaus eines Morgens mit strahlendem Gesicht verlassen. Die Fahrt mit der Lokalbahn dauerte 40 Minuten. Am Abend war er nach San Telmo zurückgekehrt, niedergeschlagen und enttäuscht.

Seine Frau, Matilde Kusminsky-Richter, mit der Ernesto Sabato seit 67 Jahren verheiratet ist, hat über ihn gesagt: »Sabato ist ein schrecklich zerrissener Mann, Gemütsschwankungen und Depressionen unterworfen, wohl mit einem klaren Wissen um seine Verdienste, doch gleichzeitig unsicher. Das Negative beeinflusst ihn leicht, und wie ein verlassenes Kind wünscht er sich Zuwendung und Zärtlichkeit.« Vielleicht war es die Mischung aus Bitterkeit, Unglauben, Ironie, Neigung zu neuer Hoffnung, Groll, Ressentiments, kritischem Sinn und schließlich Offenheit (…), Eigenschaften, die einen besonders ausgeprägten argentinischen Typus charakterisieren, auf die der junge Franzose nicht vorbereitet war, vielleicht lag es auch an ihm selbst, dass Sabato, Ehrenpräsident der Studenten von Buenos Aires, der junge Menschen häufig als Hoffnungsträger bezeichnet »wenn jemand dieses Land retten kann, dann diese Jugend und die wenigen Leute, die Weitsicht besitzen« – dass er ihn, den jungen Franzosen, dennoch vor den Kopf stieß, denn nie (so behauptete Bruno) sind wir die gleiche Person für verschiedene Gesprächspartner, Freunde oder Geliebte.

Niemand, der je in den Kloaken Sabatos versunken ist und sich der paranoiden Logik seiner Helden anvertraut hat, kann ernsthaft davon ausgehen, in Santos Lugares auf einen netten alten Herrn zu treffen, der bei Mate und Facturas entspannt über sein Werk plaudert.

Dem Bericht über die Blinden des Zynikers Fernando Vidal steht die Frage voran: »Wann begann diese Entwicklung, die jetzt mit meiner Ermordung enden wird?« Sabatos Künstler Juan Pablo Castel beginnt seine Erzählung: »Es wird ausreichen, zu sagen, dass ich Juan Pablo Castel bin, der Maler, der Maria Iribarne tötete.« Als ließe man ein Märchen mit der Formel beginnen: Sie lebten weder glücklich noch zufrieden und starben weit vor dem Ende ihrer Tage.

Ernesto Sabato wurde am 24. Juni 1911 in Rojas, 300 Kilometer südwestlich von Buenos Aires, als zehntes von elf Kindern italienischer Einwanderer geboren. Seinen Geburtstag teilte er später mit seiner Romanfigur Fernando Vidal und ließ ihn am selben Tag des Jahres 1955 sterben, erschossen von seiner Tochter Alejandra, die sich anschließend mit der Leiche ihres Vaters verbrennt. Ein fiktiver Zeitungsbericht über den Vorfall eröffnet den Roman Über Helden und Gräber. Das lässt eine gewisse Präferenz Sabatos für den 24. Juni erkennen, obwohl nicht ganz klar ist; ob er nicht vielleicht doch schon am 23. Juni geboren wurde. Es heißt, seine Mutter habe sich nicht genau erinnern können.

Als Mathematik- und Physik-Student an der Universität La Plata sympathisierte er mit den Anarchisten, trat dann jedoch der KP Argentiniens bei, die ihn 1935 zu einem Kongress nach Brüssel schickte. Anschließend hätte Sabato für zwei Jahre zur Ausbildung nach Russland gehen sollen, floh dann aber, wie er sagt, nach Paris. Vom Stalinismus entetzt, brach er mit den Kommunisten, »doch empfinde ich einen tiefen Respekt vor Marx und habe seinen Einfluss auf mich nie geleugnet«. Keine Radikalwende im Stile Mario Vargas Llosas jedenfalls, der früher mit eitlem Lächeln glaubte, die internationale Solidarität ganz allein hochhalten zu können, und heute den Neoliberalismus predigt.

Eine Abkehr vom politischen Engagement hat Sabato nie vollzogen. Er entwickelte sich vielmehr vom Parteigänger zum Freischärler, den Albert Camus einmal in Uppsala forderte. Die Diktatur stand Sabato in seiner Heimat durch, nahm bei Interviews nie ein Blatt vor den Mund, zu einer Zeit, als es auch für ihn lebensgefährlich war, den Mund überhaupt zu öffnen. 1982 weigerte er sich bei einem Empfang in der spanischen Botschaft, den Staatschef seines Landes, General Reynaldo Bignone, zu grüßen. Öffentlich beschuldigte er die Streitkräfte, die »ersten Subversiven« des Landes zu sein, forderte Aufklärung über das Schicksal der Verschwundenen und die Rückkehr zur Demokratie. Im selben Jahr verteidigte er in einem Gespräch mit der Zeit die Malvinen-Besetzung: »Auch ich bin Pazifist, aber nicht um jeden Preis. Es gibt gerechte und ungerechte Kriege. Ich bin gegen jeden Krieg zwischen lateinamerikanischen Staaten. Aber die Verteidigung der Souveränität gegen eine imperiale Macht kann unter Umständen notwendig, ja, unerlässlich sein.« Als moralischer Mentor Argentiniens gilt Sabato spätestens seit seinem »Abstieg in die Hölle«, als er 1983 im Auftrag von Präsident Raul Alfonsin der Kommission vorstand, die eine Untersuchung über die Verschwundenen der Militärdiktatur verfasste. Nunca mas (Nie wieder) berichtet von 8961 Fällen aus etwa 340 Folterzentren des Landes. Insgesamt wird die Zahl der Opfer auf 35000 Menschen geschätzt.

Im Jahre 1940 wurde Sabato auf den Lehrstuhl für theoretische Physik der Universität La Plata berufen. Fünf Jahre später folgte dem politischen der professionelle Bruch in seiner Biografie. Aus Protest gegen die Präsidentschaft Perons, unter dem Eindruck des Atombombenabwurfs auf Hiroshima gab Sabato seine Professur auf und zog mit seiner Familie in die Sierra de Cordoba. Es waren also nicht die Ideen, die die Welt retteten, es waren nicht der Intellekt und die Vernunft, sondern das gerade Gegenteil war es: jene Unvernunft und Unlogik der Menschen, ihr wildes, immerwährendes Verlangen, weiterzuleben, das Begehren, zu atmen, solange es möglich ist, ihr kleiner, eigensinniger, grotesker Alltagsheroismus angesichts des Unglücks. Im gleichen Jahr erschien seine Essaysammlung Uno y el universo (Der Einzelne und das Universum), für die man ihm den Literaturpreis der Stadt Buenos Aires verlieh.

Die Faszination bestechend klarer Theoreme, die den Jungen für die Naturwissenschaft begeisterten, der Traum von Berechenbarkeit und Ordnung im schmerzenden Chaos einer verletzten Seele, blieb als ein Pol bestehen, von dem aus sich der Faden zum anderen Ende spannt, an dem Irrationalität, Traum und Utopie toben. Zwischen beiden, vielen Gegensätzen bewegt sich Sabatos Werk. Einerseits die düstere Unterwelt, in der eine Sekte der Blinden sich auf die Weltherrschaft vorbereitet, umgeben von reptilienkalten Wesen und Vögeln, die Eindringlingen die Augen aushacken, andererseits die Kammer einer 25-jährigen Mutter in der Calle Reconquista, die unter Bildern von Gardel, Evita und Jesus Christus bekennt: »Schon jetzt tut es mir weh, wenn ich daran denke, dass ich eines Tages sterben muss.« Man darf niemals verzweifeln, sagt sie. Seine Romane tendierten zu einer »eher dunklen Vision der menschlichen Gattung«, sagt Sabato, »aber in ihnen wie im Leben gibt es immer Figuren, die die Gattung retten; immer gibt es jemanden, der die menschliche Existenz durch seine Praxis rechtfertigt«, durch die Aussöhnung der Extreme.

In einem Gespräch zwischen Ernesto Sabato und Jorge Luis Borges, das die betagten Titanen der argentinischen Literatur 1974 führten, verständigten sich beide über die herausragende Bedeutung von Romantiteln. Sie seien, so Sabato, als »wesentliche Metapher« des Buchs zu verstehen. In der deutschen Übersetzung seines ersten Romans von 1948, El tunel (Der Tunnel), hat es ihn allerdings besonders hart getroffen. Die erste Auflage erschien als Der Maler und das Fenster, später kaum erträglicher unter dem Titel Maria oder Die Geschichte eines Verbrechens.

In der Tat geht es um einen Maler und auch um ein Fenster, das auf einem der Bilder Castels zu sehen ist und bei der Ausstellung von einer einzigen Frau als das wahrgenommen zu werden scheint, was es ist: Ausdruck der Sehnsucht des Künstlers, dem Käfig seiner inneren Leere zu entkommen, die Suche nach Kommunikation inmitten sprachloser Zivilisationskälte. Er beginnt, Maria nachzustellen, sein Bedürfnis, eine Beziehung zu ihr herzustellen, steigert sich zur Raserei, bis er sie in einem Anfall wütenden Wahns ersticht: »Es war, als hätten wir in parallelen Gängen oder Tunnels gelebt, ohne zu ahnen, dass wir nebeneinander gingen.« 1961 erscheint Sobre heroes y tumbas und passiert unbeschädigt den Anschlag übersetzerischer Kreativität, ebenso wie 1974 Abaddon, el Exterminador. Die meisten seiner Arbeiten hat Sabato ohnehin verbrannt. »Ich hielt sie für überflüssig, unnötig, nicht gut genug. Vermutlich ein Prozess der Selbstreinigung, ein Hang zur Pyromanie. Vielleicht hätte ich mich sonst schon umgebracht, wer weiß das schon.«

Seine Helden stürzen und hoffen, scheitern und trotzen quer über den Stadtplan von Buenos Aires. La Boca, Constitucion, San Telmo, Treffen in Bars an der Ecke Esmeralda und Charcas, Spaziergänge durch Recoleta, Blicke auf die Uhr am Turm der Plaza San Martin. Sie leiden unter dem Heimweh ihrer Väter, der latenten Heimatlosigkeit aller Portenos, die nicht mehr Europa und noch nicht Lateinamerika – ohne festen Boden unter den Füßen noch die erschütternde Resonanz einer Geschichte spüren, die vor ihrer Zeit gelebt wurde. Was sie zerstört, hält sie im nächsten Augenblick auch davon ab, sich in den Riachuelo zu stürzen.

»Ich habe gescheiterte Menschen gern«, sagt Alejandra. »Das Triumphieren hat immer etwas Gemeines und Schreckliches. Was wäre dieses Land, wenn alle Welt triumphierte! Ich mag nicht einmal daran denken. Unsere Rettung ist es, dass so viele versagen.« Unbegreiflich, dass sein Werk in Deutschland so wenig bekannt ist. Nicht mal zum 90. Geburtstag Ernesto Sabatos an diesem Sonntag hat man sich zu einer Gesamtausgabe seiner Romane aufraffen können. Und wieder endete ein Tag in Buenos Aires: etwas für immer Unwiderbringliches, etwas, das ihn unerbittlich einen weiteren Schritt dem eigenen Tod näher brachte.

Die kursiv gesetzten Zitate im Text sind Ernesto Sabatos zweitem Roman »Über Helden und Gräber« (Ullstein Verlag, Frankfurt am Main und Berlin, 1988) entnommen

erschienen im Juni 2001 in der Frankfurter Rundschau
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