Der Rückzug des Volkes aus dem öffentlichen Raum und eine Metro als Testfeld für Autonomie und Selbstkontrolle einer zivilen Gesellschaft
Der Nachmittag ertränkt seinen Kummer mit Anisschnaps, Aguardiente, und heult von herzlosen Frauen. Aloen, Glücksbringer der Barbesitzer und Prostituierten, krallen ihre Wurzeln um Lautsprecherboxen, aus denen Akkordeonklänge der Vallenatos in die Calle 52 Calibio fallen. Im Zentrum Medellins tänzeln die Takte um die Karren der Obstverkäufer, wo klebriger Saft aus Mangopyramiden sickert, Fliegenbeine fesselt und auf die schorfige Haut der Avocados tropft. Sie taumeln den Loshändlern ins Wort, denen das Glück wie eine Rüstung aus Papier in Fetzen von den Schultern hängt.
Pablo Escobar ist tot. Die Autofahrer dürfen das fahle Licht im Innern ihrer Wagen wieder löschen, auch wenn die Dunkelheit Gesichter potentieller Täter schwärzt. Don Pablo ist tot. Die Motorradfahrer dürfen wieder Helme tragen, weil die verkehrssicher maskierten sicarios, die Soziusschützen, nicht mehr schießen. Seltener schießen. Escobar ist tot. Passanten tragen die Uhren weiterhin am rechten Handgelenk. Weil Straßenkinder an roten Fußgängerampeln blind nach der linken Hand greifen. In der Stadt der Orchideen. Seit fünf Jahren gleitet eine Stadtbahn über das phantastische Chaos aus Abgasen, Schmutz und Gewalt, entlässt Menschen in verstopfte Gassen, die wie Krampfadern das wunde Herz der Stadt umklammern. Die heile Welt als schmaler Schienenstreifen, auf dem die Metro das Tal von Medellin durchquert, die Valle de Aburra.
Türen freihalten, rechts stehen, links gehen, bis zur gelben Bahnsteigkante. Im Zug herrschen Sauberkeit und Disziplin. Sechs Wagen a 22,60 m x 3,20 m macht 434 Quadratmeter Frieden auf Erden im Drei-Minuten-Rhythmus. Die Herausgeber der Bahn-Zeitung La Hoja del Metro haben den Fahrgästen Gebete mit auf den Weg gegeben: »Herr, vergib den Nutzern, die sich an die Türen lehnen, wenn diese sich schließen. Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Und weil sie Verspätungen verursachen. Mach, dass sie ihre Sünden nicht wiederholen.« Ave Maria. Amen.
Die kolumbianische Öffentlichkeit hat vor langer Zeit begonnen, sich aus dem öffentlichen Raum zurückzuziehen. Der Name Bogotazo bezeichnet die blutigen Aufstände, die der Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliecer Gaitan im April 1948 folgten und den Beginn der Violencia markieren. Gewalt als Epochenbegriff Als hätte das Morden in Kolumbien einen Anfang und ein Ende.
Bilanz des 19. Jahrhunderts: 14 Jahre Unabhängigkeitskrieg, acht allgemeine Bürgerkriege, 14 lokale Aufstände, zwei internationale Kriege mit Ecuador und drei Staatsstreiche. 100 Jahre später ist es in Kolumbien für erwachsene Männer wahrscheinlicher, eines gewaltsamen Todes zu sterben, als an Krebs oder Aids zu erkranken.
Medellin, die Hauptstadt des Departamentos Antioquia im Nordwesten der Andenrepublik, Medellin ist so sehr Klischee, dass es Angst macht. Pablo Escobar, Chef des Drogenkartells von Medellin, bombte die Stadt in den 80er Jahren mit Sprengstoffanschlägen in die Schlagzeilen. Die Bewohner von Envigado, einem Vorort, seinem Heimatort, erinnern sich an den Wohltäter, der ihnen Fußballplätze baute und Wohnungen. Hunderte begleiteten den Sarg 1993 weinend zum Friedhof, nachdem er auf der Flucht erschossen worden war.
Die willkürlichen Attentate, mit denen die Kokainkönige den Staat erpressten, um ihre Auslieferung an die USA zu verhindern, haben seitdem ein Ende. Heute lähmt die Furcht vor Entführungen das Leben. Kaum jemand, der nicht einen Freund, eine Tante, einen Neffen nennen kann, der eines Abends nicht nach Hause kam. Wer es war, spielt selten eine Rolle. Guerilla, Paramilitärs oder Kleinkriminelle, die am Telefon fünfzig Dollar für die Freilassung fordern, was macht das schon. Wer es sich leisten kann, hat Angst und meidet die Innenstadt.
Medellin, das sind umzäunte Inseln inmitten eines feindseligen Ozeans, den es auf kürzestem, weil sicherstem Weg zu durchqueren gilt. Medellin ist ein Meer bodenloser Hütten, der Arbeitsplatz heute eine rote Ampel, morgen eine Baustelle, übermorgen verloren. Die Topographie der Stadt bestimmt der soziale Status.
»Die Sauberkeit liegt in unser aller Verantwortung.« Ende der Durchsage. Preußischblau ragen die Buchstaben der Haltestelle Itagüi auf einem Pfahl neben dem Eingang in den Himmel. Frauen in Putzkitteln wischen den Steinboden, der feucht im Licht glänzt, und polieren Abfalleimer aus Chrom. Seit die Stadtbahn 23 Kilometer zu 36 Minuten rafft, erzählen sich die Paisas, die Einwohner der Region, einen Witz: »Warum haben die Antioquefios immer ein Taschentuch einstecken?« Antwort: »Um ihre Metro zu putzen.“ Und die Legende vom Klempner, dem ein Hauseigentümer nach getaner Arbeit anbietet, ihn im Mercedes zur nächsten Metrostation zu fahren. »Schauen Sie mich an«, erwidert der Klempner, »so schmutzig wie ich bin, setze ich mich doch nicht in die Metro. Fahren Sie mich lieber im Auto nach Hause.«
Auf dem Bahnsteig untersagt ein kleiner Junge einem Mann, der sein Vater sein könnte, sich eine Zigarette anzuzünden. In der Konditorei ,Astor“ verkaufen sie für 1700 Pesos Metro-Törtchen mit Schokoschrift und Marzipanrädern. »Orgullo Paisa«, Paisa-Stolz, steht auf der Sonnenschutzfolie eines Jeeps, die die Silhouette der Stadt mit Schienenbahn zeigt. Das Phänomen heißt Cultura Metro und funktioniert.
Vielleicht liegt es an der Sprache, die den Imperativ zum kategorischen wandelt. »Es ist besser, fertig zu essen, bevor man unsere Metro betritt.« Die Verpflichtung wirkt, ohne Verbot. Auf einem Aufkleber buhlt ein kleiner, pummeliger Waggon: »Lieb mich, ich gehöre Dir.« Auch hier gibt es Polizeieinheiten, die policia metro, doch die meisten von ihnen sind junge Rekruten, die im Dienst manchmal versuchen, zwei Walkman-Stöpsel auf zehn Ohren zu verteilen.
Vielleicht liegt es an der Egalität, die der Zug mit seinem Streckenverlauf vortäuscht. Er zieht vorbei an den einfachen Backsteinhäusern Envigados, immer entlang des Rio Medellin, den unterwegs braune Rinnsale und schäumende Abwässer speisen. Nach Industriales hebt die Metro auf Ständern vom Boden ab, lässt die Stadt bis zur Station Caribe unter sich, überflügelt die Realität. Im Zentrum schieben sich verspiegelte Häuserfronten vor koloniale Kirchenportale, barocke Fassaden stecken eingekeilt zwischen Betonklippen. Die Stadt. frisst sich in die Berge, rote Ziegel liegen wie Schorfkruste auf grünen Hügeln. Das Hochhaus Coltejer, das so spitz zuläuft, dass sie es »die Nadel« nennen, sticht am Parque Berrio aus Palmenkronen. Richtung Norden kleben die Hütten schräger am Hand, verbunden von Straßen ohne Namen. Wenn der Zug in Acevedo so dicht an den Hütten vorbeifährt, dass die Wäsche im Fahrtwind an der Leine zerrt, riecht es nach Exkrementen. Aasvögel staksen durch Müllberge und suchen nach Faulem.
Vielleicht liegt es daran, dass in der Metro kein Zaun die Besitzenden von den Besitzlosen trennt. Die Stationen sind Orte ohne Geschichte, die weder hoffen noch fürchten lassen, ein Testfeld für Autonomie und Selbstkontrolle.
»Es ist also klar, dass in der Metro zwar jeder ,sein eigenes Leben lebt‘, dieses aber nicht in völliger Freiheit gelebt werden kann«, schreibt Marc Augé über die Stadtbahn von Paris, »nicht nur deshalb, weil sich in der Gesellschaft keine Freiheit völlig ausleben lässt, sondern weil der kodierte und geordnete Charakter des Metroverkehrs jeden einzelnen zu Verhaltensweisen zwingt, von denen er nicht abweichen kann, ohne sich Sanktionen, sei es seitens der Staatsgewalt, sei es seitens der mehr oder weniger effizienten Missbilligung der anderen Fahrgäste, auszusetzen.« Ein Mechanismus, der auf gesamtgesellschaftlicher Ebene schon vor Jahren den Geist auf gegeben hat.
Kinder drücken ihre Nasen an kühle Fensterscheiben, leise Gespräche zwischen grünen Plastikschalensitzen, ein Handy klingelt, alte Männer mit Strohhut, Leinenanzug und traditioneller Lederhandtasche, Büroangestellte mit Aktenkoffern im Arm, die der Zug durch einen kurzen Tagtraum schaukelt. Mütter, Arbeiter, Nonnen, Herren mit teuren Aftershaves und Mädchen mit Jeans, die ausprobieren, wer am längsten in der Mitte des fahrenden Waggons stehen kann, ohne die Füße zu bewegen. Die Geräusche sind so verhalten, dass man die Hausschlüssel in den Hosentaschen klimpern hören kann. Zwei Jungs im weißen PR-Combat-Anzug betreten den Wagen mit Tonnen auf dem Rücken und schenken heißen Kaffee aus. Von ihren Uniformen lachen Kaffeebohnen, die zufriedener aussehen als sie. Ein Einzelfahrschein kostet 550 Pesos, etwa so viel wie ein halber Liter Milch.
Selbst wer unterwegs nichts tut, tut nicht nichts. Er fährt. Metro. Das wird er später auch seinen Freunden erzählen. Bestimmt hat die Cultura Metro auch mit einer alten Rivalität zwischen der Provinzhauptstadt Medellin und Bogota, der Hauptstadt der Republik, zu tun. Man schätzt sich nicht, wirft einander Gefühlskälte und Manierismus (Bogota), Arroganz und Hinterwäldlerei (Medellin) vor. 1969 befasste sich in Bogota zum ersten Mal eine Kommission mit dem Plan zum Bau einer Stadtbahn, um die unpünktlichen, überfüllten, lärmenden Benzinbusse zu ersetzen. Zehn Jahre später wurde in Medellin ein Unternehmen namens Metro gegründet. Und heute? Eh?
Den Zuschlag der Ausschreibung bekam 1983 ein deutsch-spanisches Konsortium, die Arbeiten begannen im November 1985 und endeten nach Unterbrechungen wegen Finanzierungsschwierigkeiten zehn Jahre später mit der Jungfernfahrt am 30. November 1995.
Zwar sind die Stationen für Behinderte, Mütter mit Kinderwagen und alte Menschen schwer zugänglich. Zwar wurde der ursprüngliche Finanzierungsplan in Höhe von 836 Millionen Dollar fast um das Dreifache überschritten, was die Bilanz der Kosten-Nutzen-Rechnung erheblich verschlechtert. Zwar bemängeln Kritiker, zu wenige der knapp drei Millionen Talbewohner profitierten vom Bau und warnen in der Hauptstadt vor unreflektiertem Nachahmen der Metromorphose von Medellin.
Aber wer hat sie heute? Die Schienenbahn? Eh? Wer steht damit transporttechnisch auf einer Stufe mit Buenos Aires, Santiago de Chile, Rio de Janeiro, Sao Paulo, Caracas, Lima und Mexico-City? Eh? Eh? Sag schon. Wer?
»Die Demokratie wird zweifellos einen großen Schritt vorangekommen sein, wenn auch der letzte Fahrgast, trotz seiner Eile oder Unachtsamkeit, von sich aus darauf verzichtet, den Eingangskorridor als Ausgang zu benutzen, endlich empfänglich für die Ehre, die ihm das einfache Schild ,Durchgang nicht gestattet‘ mit seinem Appell an eine gewaltfreie Moral erweist«, schreibt Marc Augé. Am 11. Mai 2000 passierte Ligia Majia Velez als vierhundertmillionster Fahrgast um 10.58 Uhr das Drehkreuz der Metro-Station San Antonio.