reisetagebücher

Das Beste an einem Urlaubstag kommt dann, wenn er zur Neige geht. Wenn am Strand die Sonnenschirme längst geschlossen sind und die Luft noch warm ist, wenn Katzen streunen, Kellner die Stühle vom Pflaster räumen und irgendwo ein Licht brennt, unter dem der Tag in diesem Augenblick noch einmal von vorne beginnt: die Lampe, unter der ich sitze und Reisetagebuch schreibe.

Ich pflege dieses Ritual, seit ich mit 19 zum ersten Mal per Interrail durch Südeuropa gefahren bin. Der erste Eintrag: „Um 6 Uhr aufgestanden, mit Georg noch mal zu mir, weil DJH-Ausweis und Postsparbuch vergessen.“ 1991 halt. Würde ich das Tagebuch dieser ersten Reise am Rücken fassen und schütteln, fielen mir entgegen: eine Quittung über 100 Franc vom Hôtel Le Mistral in Montpellier, Metro-Tickets aus Madrid, ein getrockneter Lavendelzweig, eine Broschüre zum Grab von Jim Morrison auf dem Père Lachaise, ein Zettel, auf dem jemand (vermutlich ich) mit jemandem (keine Ahnung) „Schiffe versenken“ gespielt hat.

Jede Reise ist für mich auch eine Schnipseljagd. Ich sammle Bordkarten und fremdländische Kaugummipapiere, Flyer, Stadtpläne, Obstaufkleber und Quittungen. Ich knibble Etiketten von Bierflaschen, schütte in Straßencafés Zucker auf den Asphalt, der Tütchen wegen, und bekenne, ein paar Museen vor allem deshalb besucht zu haben, weil ich die Eintrittskarte aufheben wollte. Abends krame ich die Beute aus meinen Taschen, lasse den Tag schreibend Revue passieren und die Zettel als Beweismaterial zwischen den Seiten liegen.

Die Bücher füllen mittlerweile drei große Kellerkisten. Von der ersten Interrail-Reise über x-mal vier Wochen Kuba, Urlaube in Frankreich, Mexiko und Griechenland, Zugfahrten durch Indien, Autofahrten durch Myanmar, auf den Spuren von Che Guevara quer durch Lateinamerika – alles dokumentiert. Die Spiralblöcke, Kladden, Schulhefte, seit den nuller Jahren auch Moleskines, sind meine Zeitkapseln.

Reisen fluten die Sinne – mit überwältigenden und verstörenden Entdeckungen, mit Euphorie und Langeweile, mit neuen Witterungen und mit Gestank. Beim Schreiben sortiert sich mir die Welt. Dabei habe ich mir nie etwas vorgemacht. Falls mein Leben in den kommenden Jahrzehnten keine völlig überraschende Wendung nimmt, wird sich für diese Aufzeichnungen keine Sau jemals interessieren. Das ist auch völlig in Ordnung. Der Welt entgeht dadurch nichts, ich bin nicht Herodot.

Früher dachte ich, zumindest ich selber wäre später mal dankbar für die Flaschenpost. In Wahrheit nehme ich die Bücher so gut wie nie in die Hand. Und jetzt, wo ich es doch mal tue, bin ich im ersten Moment ein bisschen erschüttert über die Trivialität meiner Reiseberichte. Cartagena, Kolumbien / 15. August 1994: „Wir essen zu Mittag. Ich ärgere mich, Spaghetti bestellt zu haben. Sie schmecken ekelhaft.“

Die 19-Jährige, die Anfang der Neunziger durch London läuft, mag die Stadt offenbar, aber ihr fehlen irgendwie die Worte: „echt beeindruckend“ (British Library), „echt aufregend“ (Bombenalarm in der tube), „echt schön“ (Klavierkonzert in St. Martin-in-the-Fields), „auch wenn ich nebenbei noch ein bisschen ‚Krieg und Frieden‘ gelesen hab“. Sie könnte mittlerweile meine Tochter sein. Wahrscheinlich würden wir oft streiten.

Wenn ich mich aber auf das Mädchen einlasse, ihr Zeit gebe und jeden Tag vollständig nachlese, öffnet sich die Kapsel, und es kommt mehr ans Licht als Schnappschüsse und abgehakte Sehenswürdigkeiten. Ich begegne der Verzweiflung, die ich bei meiner ersten Reise nach Kolumbien empfunden habe, konfrontiert mit Elend und Kriminalität, Freundschaften, die unterwegs in die Brüche gehen, der Langeweile zwischen stets verspäteten Avianca-Flügen und den damit verbundenen Lektionen in Gelassenheit.

Orte selbst haben sich in diese Seiten eingeschrieben. Es gibt amazonasbraune Wasserränder, Spuren getöteter Insekten, Telefonnummern von Leuten, mit denen ich heute per Skype telefoniere, und solchen, die Fremde geblieben sind. Auch meine Handschrift übermittelt Stimmungen. Es gibt Tintenlaunen im Kugelschreiberklima. Den Aufschlag euphorischer, großer Buchstaben am allerersten Abend in Buenos Aires, der schönsten Stadt der Welt. Es gibt die Seiten aus dem Januar in Havanna, auf denen die Handschrift wankt und immer mehr kippt, bis sie kaum noch zu entziffern ist. Trotzdem weiß ich, dass eines der letzten Worte „Arschloch“ heißen muss. Der Abend, als ich auf der Mauer am Malecón saß und mich aus Liebeskummer betrunken habe.

Auf unserer ersten gemeinsamen Reise durch Mexiko habe ich vor hilfloser Begeisterung versucht, uns zu zeichnen. Kleine Strichmännchen, die am Strichstrand stehen und beide dieselbe Frisur haben. Ich kann nicht malen. In meinen Reisetagebüchern tue ich es trotzdem. Weil es da nicht um Schönheit geht. Noch nicht einmal darum, dass ich heute darüber lache. Es waren Reisemomente, die bewahrt werden wollten, und die einfachsten Mittel dazu sind nicht immer die schlechtesten.

Seit die Menschen reisen, stehen sie dabei unter Leistungsdruck. Sie wollen den Daheimgebliebenen und sich selbst beweisen, dass ihre Entscheidung richtig war. Eine Reise muss wunderschön oder wahnsinnig aufregend sein, ununterbrochen. Was diesem Anspruch nicht genügt, wird aus dem Bericht geschnitten. Liebe Mama, bin gut angekommen vs. „5 Minuten, nachdem wir losgeflogen sind, fängt der erste Passagier an zu kotzen“ (Medellín – Bahía Solano, Kolumbien, 1994).

Reisen bestehen aber nicht nur aus Höhepunkten, sondern vor allem aus Belanglosigkeiten: aus Schlangestehen und Mückenstichekratzen, aus beklaut werden und von einer Fremden umarmt werden, weil man ihr einen Spitzer geliehen hat. All das muss aufeinanderprallen, damit Gefühl aufkommt – Reisegefühl.

Viel übrig ist davon nicht, seit wir unsere Urlaubsgeschichten auf Facebook erzählen und die Bilder dazu auf Instagram hochladen, gephotoshopt, originell betextet und zigfach gefiltert. Perfektionismus und Leistungseifer sind unsere Beifahrer, selbst im Urlaub.

Auch ich poste Fotos von pittoresken Ouzo-Gelagen auf griechischen Inseln, die 73-mal geliked werden. Nicht im Bild: der Kater am nächsten Morgen, die brüllenden Esel vor dem Schlafzimmerfenster und die fremde Frau mit den Augenringen im Badezimmerspiegel. Ammoudi Beach auf Amorgos ist tatsächlich ganz genau so schön, wie er in meiner Timeline aussieht. Unerwähnt gelassen habe ich Angst und Flüche während des Zweistundenmarschs über steile Geröllpfade und die darauf folgende Expedition nach Megalo Vlychada, die wir irgendwann abbrechen mussten, nass geschwitzt, mit dornenzerkratzten Beinen, eingekesselt von einer Herde wilder Schafe. Und: kein Wort über die ereignisarmen Nachmittage. Nur mit der Hand habe ich festgehalten, wie wunderbar lässig sie dahingegangen sind.

Wenn wir Reisetagebücher führen, schreiben wir für uns und sind dabei ehrlich, zumindest bemühen wir uns darum. Wer weiß schon, woran man sich später erinnern wollen wird. Vieles wird bis dahin nebensächlich wirken. Aber neben manchem vergessenen Detail wird man niederknien und es umarmen mögen. Havanna, Kuba / 2000: „‚Ich tausche den Fernseher im Wohnzimmer gegen ein Pferd‘, sagt Julio. ‚Aber der ist kaputt‘, wende ich ein. ‚Ist mir egal, dann halt gegen ein Schwein oder eine Ziege‘, sagt Julio.“

Die Bücher sind inzwischen wieder in den Kellerkisten. Dass ich die meisten Worte darin nicht brauche, um mich zu erinnern, liegt auch daran, dass ich sie damals aufgeschrieben habe. Was für mich zählt ist der Augenblick am Ende des Tages, wenn die Welt um mich zur Ruhe kommt und die Nacht zu dunkel ist, um nach neuen Eindrücken zu suchen. Wenn die Hand beim Schreiben kleben bleibt, Schweiß die Tinte verschmiert und das Rotweinglas auf dem Papier einen Halbkreis hinterlässt. Am Abend unter der Lampe, auf einem Balkon in Athen, auf Kuba oder in Italien, während die Katzen streunen und in den Gassen Laternen leuchten.

 

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