tag 14

Liebe Karin,

den Glückwunsch für den lieben Thilo haben wir ja auf anderem Weg übermittelt, aber ich schließe mich der Botschaft Deiner Kerzen von Herzen noch mal an.

Besonders beeindruckt war ich von der Tisch-Erweiterung per Brett, und das trifft sich hervorragend, denn ich kann mit dem Erfindungsreichtum meiner lieben Gattin kontern. Du ahnst gar nicht, wie schlecht das Angebot einschlägiger Baumärkte an platzsparenden Sonnenschirm-Ständern ist! Die Lösung: Wir haben einen alten, kleinen Weihnachtsbaumständer zur Saisonware gemacht: Sommers Sonnenschirm halten und winters das Bäumchen, falls wir eins wollen…

A propos Weihnachten: Was mir dabei leider im Ernst einfällt (beziehungsweise sowieso durch den Kopf geht), ist die Furcht vor dem Corona-Winter. Wir haben ja jetzt auch eine Woche Urlaub, die wir zwar weitgehend zu Hause verbringen (ich freue mich sehr drauf!), aber auch für zwei Kurzreisen nutzen wollen: einmal zu meiner lieben Schwiegermutter und einmal zu Freunden.

Wir haben ungefähr zwei Stunden lang etwa ein Dutzend Wetter-Apps befragt, bis wir halbwegs sicher waren, an welchem Abend wir draußen sitzen können. Und wir haben uns für das Autofahren entschieden, obwohl wir Zug viel schöner und vernünftiger finden – die Waggons sind schon wieder ziemlich voll, und was man von der „Vernunft“ vieler Menschen hört, macht keinen Mut, sich in die relative Enge zu begeben. 

Ich bin ja wirklich niemand, der für blinden Gehorsam plädiert. Aber ich verstehe einfach nicht diese Leute, die, statt einfach den Weg der Vorsicht zu gehen, ihre Lust am „Widerstand“ ausgerechnet jetzt entdecken, nur weil es mal persönlich unangenehm wird. Als gäbe es nicht tausende andere Gründe, das Maul aufzureißen, auch ohne Corona!

Aber ich war beim Winter: Was soll das werden, wenn es wieder kälter ist? Schießen dann die Heizpilze wie Heizpilze aus dem Boden? Oder sitzen wir wieder isoliert zu Hause? Ich habe ein bisschen ein schlechtes Gewissen, das jetzt so vor Dir auszubreiten, ich will Dir nicht den Urlaub verderben. Ihr wollt und sollt ja Kraft tanken für das, was kommt, und nicht Angst. Aber das tut ihr sicher, auch wenn die Gedanken nicht immer die fröhlichsten sind.

Den Text zu Willy Brandt, bei dem ich vorgestern hängengeblieben war, habe ich jetzt auch schon fertig. Und der Blick auf die freie Woche tut verdammt gut. Ich werde es genießen, und das wünsche ich euch auch!

Besitos, Dein Stephan

tag 12

Liebe Karin,

immerhin hat es gut angefangen. Ich hatte fest vor, heute den Text über Willy Brandt zu schreiben, und zwar möglichst ganz. Du ahnst es: Daraus ist nichts geworden.

Der Text soll in der Serie zum 75. Geburtstag der Frankfurter Rundschau erscheinen. Da wird jeden Tag ein Mensch vorgestellt, der für eines der 75 Jahre steht und etwas Mutiges getan hat. Bei Willy Brandt ist es das Jahr 1969, in dem er zum ersten SPD-Kanzler der Bundesrepublik gewählt wurde. Und mutig war es allemal, wie er gegen großes Geschrei der Antikommunisten seine Entspannungspolitik gegenüber den kommunistischen Diktaturen im Osten Europas durchgesetzt hat (DDR inklusive).

Dummerweise ist mir, kaum hatte ich angefangen, ein eigenes Erlebnis eingefallen: Ich habe ihn erlebt, den Brandt, am 12. November 1972 (das habe ich nachgeschaut, zugegeben) in der Frankfurter Festhalle bei einer Kundgebung zur nächsten Bundestagswahl. (Ohne den Leuten zu viel zu verraten: Du kannst leicht ausrechnen, wie alt Du an diesem Tag warst.)

Ich jedenfalls war 16 und komplett begeistert. Zwar hat sich das Bild der schönen Jungsozialistin G., die mich mitgenommen hatte, nachhaltig vor Brandts Rede geschoben. Aber das Gefühl, dass da einer mit tiefer Überzeugung und gegen heftigen Widerstand für eine wirklich neue Politik gestritten hat, das ist geblieben. Auch wenn ich der SPD nie wieder so nah gekommen bin…

Ich bin heute derart in meinen Erinnerungen hängengeblieben, dass ich nichts anderes mehr zustande gebracht habe, als in Brandts Biografie herumzugoogeln. Mir ging immer wieder durch den Kopf, wie ich die Debatte über das Misstrauensvotum verfolgt habe, mit dem die CDU Brandt stürzen wollte, das war auch 1972. Ich meine: Pubertierende Jungs (ich war ja nicht der einzige!) sitzen zitternd vor dem Radio und drücken einem SPD-Politiker die Daumen, ist das nicht unglaublich? 

Mir fällt das alles nicht nur ein, wenn ich gerade über Willy Brandt schreibe. Ich muss oft daran denken, wenn mir Leute erzählen, sie interessierten sich nicht für Politik. Ich habe damals gelernt, dass Politiker die Welt sogar besser machen können. Soll das etwa nicht mehr stimmen, „nur“ weil es im Moment fast keiner tut?

War trotzdem ein schöner Tag, ich komme mir vor, als wäre ich kurz verreist gewesen. Und der „Willy“ bekommt halt von mir eine Sonderschicht am Wochenende.

Denkt an was Schönes und passt auf den Sonnenschirm auf!

Dein Stephan

tag 10

Liebe Karin,

schöner hättest Du das C-Thema nicht umkurven können! Was Du schreibst, vermittelt mir ganz wunderbar diese Stimmung, in der vermeintliche Randerscheinungen wie Kurven, Sonnenuntergänge etc. das Zeug dazu haben, den Tag so auszufüllen, dass sich unwillkürlich die Frage stellt: Woher nehme ich eigentlich sonst immer die Zeit zum Arbeiten?

Was mich umtreibt: Steht da echt an beiden Enden der Straße „downhill“? Andererseits bin ich beruhigt, dass Du erwähnst, es sei auf dem Weg zum Haus dann doch „hinauf“ gegangen. Die irdischen Verhältnisse (eine Richtung runter, eine Richtung rauf) scheinen also noch einigermaßen gewahrt zu sein, Götter hin oder her.

Bei uns ist gestern ein brutales Gewitter durchgerast, zum Glück ohne schlimme Folgen. An der Hitze hat es wenig geändert, aber etwas kühler war es dann doch, ich habe den Tag auf dem Balkon sehr genossen. Das Büchlein über die „Verantwortung der Linken“, das ich durchgelesen habe und rezensieren möchte, war nicht der Kracher, aber ich habe mal ein paar Stunden auf Papier geschaut statt aufs Laptop, das war gut.

Überhaupt geht es im Job relativ ruhig zu. Ich habe Gelegenheit, meinen Kopf ein bisschen zu füttern, das hat er ganz gern, egal ob mit Büchern oder mit einer wunderbaren Sitzung wie der, bei der ich gestern war (großer Abstand, weit geöffnete Fenster). Nicht in der FR-Redaktion, sondern in anderem Zusammenhang, da waren verdammt kluge Leute. Muss ich Dir mal erzählen.

Gestern Abend, nach dem Gewitter, zwei wunderbare Stunden mit meinem besten Freund T. in seinem Kleingarten bei einem Bier. Ein gemütlich vor sich hin mäanderndes Gespräch in der anbrechenden Dämmerung. Das hätte so weitergehen können, aber ich wollte nach Hause zur Frau. Vom Sonnenuntergang haben wir nichts gesehen.

tag 8

Liebe Karin,

das Foto habe ich gemacht, bevor ich erfahren habe, dass Olaf Scholz Kanzlerkandidat der SPD wird. Super-Tag, na ja. Das ist sicher nicht das wichtigste Thema auf Erden, aber mich belastet es schon, wie dieses Land offenbar mit Vergnügen in eine Zukunft döst, die etwas anderes erfordern würde als einen Verwalter bestehender Verhältnisse. 

Ich habe gleich über Scholz geschrieben, erst einen schnellen Online-Kommentar und dann den Leitartikel für die FR von morgen. Mir tut das immer ganz gut – ein großartiges Privileg, wenn man seine Gedanken, seine Kritik, seine Sorgen, seine Einschätzung gleich in eine Form bringen darf, die andere hoffentlich zum Weiterdenken anregt (oder wo ich mir das zumindest so einbilden kann).

Ich habe mich gefreut, dass Du gestern ganz am Schluss noch geschrieben hast, ich solle mir keine Sorgen machen. Vielleicht geht es euch ja immer besser, je mehr ihr euch von dem Fluchtgedanken verabschiedet? Vielleicht gibt es einen Rhythmus, in dem man dem Virus die Phasen des Genusses abringen kann, ohne es vergessen zu müssen? Vielleicht ist der Schorf an der Wunde, von dem Du schreibst, wie im „richtigen“ Leben ein Zeichen der Heilung, der Wiederherstellung einer Schutzschicht?

Die Männer mit den freien Nasen sind mir übrigens auch schon aufgefallen. Aber an den Spruch „Wie die Nase des Mannes…“ mochte ich noch nie glauben. Vielleicht weil es unangenehm ist, daran zu denken, wenn man sich manche Rotzlöffel anschaut, die so rumlaufen. Oder fahren, um beim Schwanzding zu bleiben: Unterdimensionierte Männer in ihren überdimensionierten Kisten. Am liebsten röhrend, auf jeden Fall irgendwas kompensierend. 

Nebenan plantschen Kinder im Pool der reichen Nachbarn, und ich denke an euch beim Schwimmen. Bleibt meerumschlungen!

Besitos, Stephan

tag 6

Liebe Karin,

Deine Nachricht ist mir trotz der 2370 Kilometer sehr nahegegangen. Du hast mich ein bisschen das Gefühl mitspüren lassen, dass das „Wiederfinden“ von etwas Altvertrautem, immer für sicher Gehaltenem den Verlust von Sicherheit und Vertrautheit noch deutlicher, noch schmerzhafter werden lässt. Verzeih den blöden Vergleich, aber ich musste an meine leicht lädierte Schulter denken, die für ein paar Tage ein bisschen geschmerzt hat. Jetzt fühlt sich alles wieder fast normal an, und erst im gesunden Zustand ist mir klargeworden, wie unangenehm das Gefühl des Krankseins, der eingeschränkten Bewegungsfreiheit (wenn auch nur eines Arms) war.

Wir hatten gerade Besuch von einer sehr, sehr lieben Verwandten, saßen mit ihr und dem Kater der Nachbarin draußen und haben lange darüber gesprochen, welches Privileg es auch schon bedeutet, über ein ruhiges und vertrautes Plätzchen zu Hause zu verfügen, wo man sich wenigstens in Worten nahekommen kann. Am Schluss hat sie fast verschämt gefragt, ob wir uns vielleicht kurz umarmen könnten… Wer wäre vor der verdammten Pandemie auf so eine Idee gekommen!

Aber wir waren uns auch einig, dass jedenfalls für uns, die wir uns keine großen materiellen Sorgen machen müssen, diese Einschränkungen im Sozialleben auch ein paar Möglichkeiten zum Nachdenken eröffnen. Zum Beispiel über das Termingehetze im Beruf wie im Privaten. Nein, ich will Corona nicht schönreden. Ich merke nur, dass auch diese Krise nicht ganz und gar ohne Chancen ist.

Den Kater der Nachbarin haben wir übers Wochenende in Pflege. Das Tier macht auf Melancholie, und wir fragen uns, ob Katzen vielleicht doch so anhänglich sein können, dass sie „Frauchens“ Abwesenheit aus der Bahn wirft. Ach, wahrscheinlich ist es einfach die Hitze. Eine Meerbrise könntest Du uns rüberschicken!

Lass Dich weiter umarmen, vom Meer und von allem, was Du liebst.

Dein Stephan