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Liebe Karin,

Deine Nachricht ist mir trotz der 2370 Kilometer sehr nahegegangen. Du hast mich ein bisschen das Gefühl mitspüren lassen, dass das „Wiederfinden“ von etwas Altvertrautem, immer für sicher Gehaltenem den Verlust von Sicherheit und Vertrautheit noch deutlicher, noch schmerzhafter werden lässt. Verzeih den blöden Vergleich, aber ich musste an meine leicht lädierte Schulter denken, die für ein paar Tage ein bisschen geschmerzt hat. Jetzt fühlt sich alles wieder fast normal an, und erst im gesunden Zustand ist mir klargeworden, wie unangenehm das Gefühl des Krankseins, der eingeschränkten Bewegungsfreiheit (wenn auch nur eines Arms) war.

Wir hatten gerade Besuch von einer sehr, sehr lieben Verwandten, saßen mit ihr und dem Kater der Nachbarin draußen und haben lange darüber gesprochen, welches Privileg es auch schon bedeutet, über ein ruhiges und vertrautes Plätzchen zu Hause zu verfügen, wo man sich wenigstens in Worten nahekommen kann. Am Schluss hat sie fast verschämt gefragt, ob wir uns vielleicht kurz umarmen könnten… Wer wäre vor der verdammten Pandemie auf so eine Idee gekommen!

Aber wir waren uns auch einig, dass jedenfalls für uns, die wir uns keine großen materiellen Sorgen machen müssen, diese Einschränkungen im Sozialleben auch ein paar Möglichkeiten zum Nachdenken eröffnen. Zum Beispiel über das Termingehetze im Beruf wie im Privaten. Nein, ich will Corona nicht schönreden. Ich merke nur, dass auch diese Krise nicht ganz und gar ohne Chancen ist.

Den Kater der Nachbarin haben wir übers Wochenende in Pflege. Das Tier macht auf Melancholie, und wir fragen uns, ob Katzen vielleicht doch so anhänglich sein können, dass sie „Frauchens“ Abwesenheit aus der Bahn wirft. Ach, wahrscheinlich ist es einfach die Hitze. Eine Meerbrise könntest Du uns rüberschicken!

Lass Dich weiter umarmen, vom Meer und von allem, was Du liebst.

Dein Stephan