der falsche name

Der Termin für das Treffen mit dem Mann ist abgesprochen, als seine Frau am Telefon droht, die Pläne noch zu durchkreuzen. »Sag mal, soll das eigentlich ein Witz sein? Dieses Interview? Wer sagt mir, dass Du wirklich deutsche Journalistin bist? Und warum rufst Du dann aus Buenos Aires an, eh?« Die Frau lacht schrill. »Hör mal, Schätzchen, Du kannst vielleicht Hitler verarschen, aber mich verarschst Du nicht.« Sie legt den Hörer zur Seite, Schritte, dann spricht ihr Mann ins Telefon. »Du musst entschuldigen. Natürlich kannst Du kommen, komm nach Tacuarembó«, sagt er. »Ich beantworte Dir jede Frage, die Du mir stellen willst, obwohl ich wirklich nicht weiß, was an mir so besonders sein soll.« Sagt der Mann, der Hitler Aguirre Fuentes heißt.

Die Geschichte beginnt im Jahr 1939, knapp 400 Kilometer nördlich von Montevideo. Zwei Brüder, in Uruguay geboren, verfolgen die Nachrichten über den Krieg, der in Europa tobt, als sei es ein Fußballspiel. Die knappen Informationen, die bis hierher gelangen, liefern kaum mehr als blutige Tabellenstände. An langen, stillen Abenden streiten die Brüder darüber, wer besser ist: Hitler oder Mussolini. Langeweile. Der Krieg ist weit weg. Ihre Frauen sind schwanger.

Als die erste der beiden einen Sohn zur Welt bringt, taufen die Eltern das Kind auf den Namen Mussolini. Wenige Monate später gibt der Bruder seinem Jüngsten den Vornamen Hitler. Um gleichzuziehen. So einfach ist das. »Mussolini lebt auch hier in Tacuarembó, aber er ist sehr krank.« Hitler zuckt die Schultern und lächelt, verlegen, geschmeichelt, während er wiederholt, dass er nicht begreifen kann, was an ihm so interessant sein soll. Er sitzt auf einem Sessel, die Beine übereinander geschlagen, verknotet. Seine Ausweispapiere bewahrt er in kleinen Plastikbeuteln auf, die in der hinteren Hosentasche stecken.

Hitler Aguirre Fuentes, geboren am 30. April 1940 in Tacuarembó, República Oriental del Uruguay, das jüngste von sieben Kindern. Wenige Jahre später ließ der Vater die Familie sitzen. »Meine Eltern waren einfache Leute, Leute vom Land. Sie haben nicht studiert. Mein Vater und sein Bruder fanden das unterhaltsam, was in Europa passierte, ohne sich klar zu machen, was da wirklich vor sich ging.« Hitler lächelt und schlägt mit der flachen Hand auf die Flicken seiner dunklen Hose. Seine Eltern haben ihm erzählt, dass er deutsche Vorfahren hat; wer weiß, seine hellen Haare und Augen jedenfalls legen keine indigenen Ursprünge nahe. Hitler hat sich nie die Mühe gemacht, das zu überprüfen. Wozu auch.

Es ist nicht so, als wäre Señor Aguirre Fuentes der einzige Mann auf der Welt mit Namen Hitler. Die Telefonbücher von Uruguay allerdings führen nur einen, ihn, dazu einen Mussolini, seinen Cousin, einen Stalingrado, neunmal Churchill und zehn Stalins. Die juristische Grundlage bildet das uruguayische Namensgesetz, das sich zurückhaltend mit dem Wort liberal beschreiben lässt, anders gesagt: Es existieren praktisch keine Normen. Von den Folgen können Capataz (Vorarbeiter) Sotelo und Subterránea (Untergrundbahn) Gadea berichten, die Herren Arbol (Baum), Teléfono (Telefon) und Esmédico (ist Arzt), Menschen, die von Pfarrern auf die Namen Walt Disney, Trademark und Addis Abeba getauft worden sind.

Fortschrittsfetischismus und Fantum haben einen alten katholischen Brauch abgelöst, der Eltern Kinder früher nach dem Schutzheiligen nennen ließ, der am Tag ihrer Geburt im Kalender auftauchte – auch das allerdings ist kein Garant für namentliches Untertauchen in der Menge. Hitler erzählt von einem Bekannten aus Tacuarembó, der am 2. November geboren wurde, Allerseelen, im Spanischen etwas länglicher Conmemoración de todos los fieles difuntos, Gedenken der verschiedenen verstorbenen Heiligen. »Und so heißt er auch: Conmemoración de todos los fieles difuntos.« Hitler lacht auf. »Mein Name, der ist doch ganz normal, da sagt niemand was.«

Früher, als er noch zur Schule ging, legten ihm Lehrer nahe, seinen Namen zu ändern, Erwachsene boten an, ihn bei einem anderen Namen zu rufen. »Aber ich wollte das nicht«, sagt Hitler. »Wenn meine Eltern mir doch diesen Namen gegeben haben. Außerdem kostete das mit der Namensänderung damals viel Geld, und wir lebten nicht in Verhältnissen, die uns das möglich gemacht hätten.« 1000 Pesos Uruguayos, dafür hätte man damals, vor 50 Jahren, ein Haus kaufen können. »Sonst hätte ich ihn vielleicht geändert. Wer weiß.« Freunde hätten ihn nie darauf angesprochen, sagt Hitler, auch die Leute nicht, denen er Jahre später hinter der Theke seines Ladens in Tacuarembó erklärte, warum sie bei den Wahlen ihre Stimme der Frente Amplio, einem linken Parteienbündnis, geben sollten.

Die Schule hatte ihm keinen Spaß gemacht, also verließ er sie, als er 14 Jahre alt war. Seine Mutter schickte den Jungen aufs Land zu Verwandten, in der Hoffnung, dass ihn die harte Arbeit mürbe machen und auf den akademischen Weg zurückbringen würde. Drei Jahre später eröffnete Hitler seinen ersten Laden in Tacuarembó. »Ich habe nur gearbeitet, Tag und Nacht. Ich bin nie ausgegangen, zum Tanzen, das gefällt mir nicht.« Als die Wahlpflicht eingeführt wurde, entschied er sich für die Frente Amplio. »Warum sie mir gefallen haben? Ich weiß nicht . . . Ich dachte, dass es mit der Frente mehr Arbeit geben würde, vielleicht.«

Hitler sagt, er sei nie ein politischer Mensch gewesen, politisch genug allerdings um in Kauf zu nehmen, dass er Kunden verlor, die seine Meinung nicht teilten. »Manche sagten damals zu mir: Pass auf, wenn die Frente kommt, dann musst du jeden Tag 20 Stunden arbeiten. Aber mir war das egal, ich war sowieso daran gewöhnt.«

Es kam schlimmer. Nach einem Putsch im Jahr 1973 übernahmen Militärs die Macht und verwandelten das Land in einen Folterstaat. Jeder dritte Uruguayer wurde während der Diktatur misshandelt, Tausende verschwanden. Hitler wurde nach wenigen Tagen aus dem Gefängnis freigelassen, doch Inspektoren des Regimes sorgten dafür, dass er seinen Laden verlor, seine wirtschaftliche Existenz. »Meine Frau sagte: Komm, wir gehen aufs Land.« Seine erste Ehefrau, die ihn nie Hitler, sondern Pocho genannt hat, sein Spitzname. Jahrelang lebten sie außerhalb von Tacuarembó, auf einem Hof mit ihren Kindern und 3900 Hühnern.

Sein ältester Sohn heißt Liber Eduardo, »nach dem Chef der Frente Amplio«. Ursprünglich wollte er ihm den vollen Namen geben, Liber Seregni, »aber die Krankenschwester und meine Frau wollten, dass ich den Nachnamen weglasse und ihn nur Liber nenne, na gut, am Schluss haben sie mich überzeugt«. Als Ende der 60er Jahre sein zweiter Sohn zur Welt kam, tat Hitler etwas Erstaunliches. Dass der Junge nicht auch noch Adolf, sondern nur Hitler heißt, ist allein der neuerlichen Intervention von Mutter und Hebamme zu verdanken. Er sagt, er habe das nicht böse gemeint. Er sagt, beteuert, er habe dabei nicht an »den anderen« gedacht, »an den erinnern wir uns hier ja gar nicht mehr«. Er sagt, er habe die Familientradition fortsetzen wollen, »wie man das hier eben macht«, in Uruguay, wo der Zweite Weltkrieg nicht stattgefunden hat.

Sein dritter Sohn heißt Richard William, »wegen so einem Film, den ich mal gesehen hab, ich weiß nicht mehr aus welchem Land«. Das Mädchen heißt Miriam Elisabeth, »wegen Elisabeth Taylor«. Und Miriam? »Das ist mir halt so eingefallen.«

Hitler weiß wenig über »den anderen«. Ein paar Reportagen hat er in Zeitschriften gelesen, Filme gesehen, das bisschen, was sie ihm in der Schule erzählt haben, bevor er sie verlassen hat. »Er und Mussolini wollten Herren der Welt werden, oder? Und – ich weiß nicht, ob das stimmt, aber man sagt, dass er sechs Millionen Juden umgebracht hat.« Hitler hebt den Blick, als hoffe er auf einen Einwand. »Wenn das wahr ist, dann ist das natürlich eine Ungeheuerlichkeit. Und ich nehme an, dass es stimmt, was uns die Lehrer erzählt haben. Die haben ja studiert.«

Sein Sohn habe nie etwas zu seinem Namen gesagt. »Ich weiß nicht, ob er ihm gefällt oder nicht. Er ist sehr schweigsam«, sagt Hitler. Wer weiß, ob er den Namen weitergegeben hätte. Hitlers Sohn lebt auf dem Land, mit seinen zwei Töchtern. »Seine Frau und er wollen keine Kinder mehr haben.« Ende der Tradition.

Das Wohnzimmer mit den kahlen, türkis gestrichenen Wänden und einer Sitzecke, die aussieht wie ausgeschnitten und aufgeklebt, liegt gleich hinter dem Ladenraum, um den sein Leben kreist, den Provisión El Altillo, mit Strohhüten, die von der Decke baumeln, Rasierklingen auf Papphaltern, Chipstüten, Besenstielen, Zigaretten und Yerba Mate, Hülsenfrüchten in Jutesäcken auf dem Boden. Hitlers Geschäft öffnet morgens um 7 und schließt abends um 22 Uhr. Wer später klingelt, wird trotzdem bedient. Seit einem Jahr ist er wieder zurück in der Stadt.

»Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass Kinder groß werden, heiraten und irgendwann ausziehen, aber bei mir war das nicht so. Die Kinder haben geheiratet, aber sie sind alle dageblieben, das Haus wurde immer voller. Wir waren 20 Leute, und der Einzige, der Geld verdiente, war ich. Also sagte ich zu meiner Frau: Lass uns zurück nach Tacuarembó gehen, wir zwei. Aber sie sagte: Ich will nicht. Also sagte ich: Dann gehe ich allein.« 15 Tage später holten ihn seine Kinder nach Hause, krank vom Alleinsein. Das war vor zehn Jahren. »Meine erste Frau und ich haben immer zusammengearbeitet. Sie war 17 Jahre alt, als wir geheiratet haben. Vorher hab ich dieses Haus gebaut, weil ich ohne das nicht heiraten wollte. Bevor es eine Frau schlecht bei mir hat, soll sie lieber bei ihren Eltern bleiben.« Das Haus, das er als Junggeselle gebaut hat, ist das Einzige, was er nach der Scheidung behalten hat. Die Anwälte haben ihm gesagt, dass er mehr als das einfordern kann, aber er lehnte ab. »Das gehört sich nicht«, sagt Hitler.

Seine zweite Frau, die ihn bei seinem Vornamen nennt, hat einen Sohn mit in die Ehe gebracht. Wenn der Junge ins Wohnzimmer springt, schnipst Hitler mit den Fingern, um ihm zu bedeuten, dass er das Gespräch stört. Manchmal sagt Hitler mahnend »Maicol«, und wahrscheinlich schreibt sich der Name auch so. Der Junge rollt dann die Augen zur Decke, macht kehrt und rennt zurück in den Laden. Seine Mutter sitzt auf dem Balkon und schaut auf die Straße. Die Nachmittage sind lang in Tacuarembó.

Am Abend nimmt ein beträchtlicher Teil der 50 000 Einwohner die Plaza in Beschlag, den kleinen Platz vor der Kathedrale, hockt auf Mäuerchen, Stufen und Parkbänken, mit Mate-Kalabassen und Thermoskannen. Wer nicht sitzt, ist auf dem Weg zu einem Treffen, bei dem er sich setzen wird, mit Thermoskanne unter dem Arm und Mate-Kalabasse in der Hand, als würde ohne sie das Atmen schwer. Hitler darf keinen Mate mehr trinken. Gastritis, sagt er.

Tacuarembó hat er selten verlassen. Kuba würde er gerne kennen lernen, sagt er. Oder Deutschland. »Als ich 60 war, bin ich zum ersten Mal nach Montevideo gefahren, weil ich krank war und ins Sanatorium musste.« Auf den Ämtern, wo er Angelegenheiten zu klären hatte, hätten die Leute schon mal seinen Pass länger angeschaut und gesagt: Hitler? Wie sind Deine Eltern denn darauf gekommen? Keine unangenehmen Begegnungen, sagt Hitler. »Hier im Quartier kennen mich alle unter dem Namen, mich stört das auch nicht, ich hab mich daran gewöhnt. Ist das denn wirklich so komisch? Gibt es in Deutschland niemanden, der Hitler heißt?«

Seine Frau lächelte, mit gesenktem Kopf, als sie vom Balkon in den Laden trat, mit kurz geschnittenem schwarzen Haar und beigen Latzhosen. Sie murmelte eine Entschuldigung. Den Presseausweis wollte sie nicht sehen. Am Abend sagte sie zu ihrem Mann, dass das schon sein könnte, mit der Deutschen. Aber wahrscheinlich stecke der deutsche Geheimdienst hinter dem Interview.

erschienen im April 2004 in der Frankfurter Rundschau
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