gebt das koks frei!

Ich habe nichts gegen Drogen, im Gegenteil. Ich rauche und trinke, beides zu viel vermutlich. Früher habe ich auch manchmal gekifft und war grundsätzlich offen für Experimente, doors of perception und so, aber am Silvesterabend 1993 habe ich mir geschworen, niemals zu koksen. Am Himmel über Frankfurt explodierten Feuerwerksraketen, die Nachbarn waren ausgelassener Stimmung. Es war sehr kalt in dieser Nacht, aber das war nicht der Grund, warum der Mann, den ich am Straßenrand im Arm hielt, zitterte und bei jedem Knall zusammenzuckte. David war traumatisiert. Er lebte damals seit vier Jahren in Europa. Pablo Escobar, der Chef des Drogenkartells von Medellín, war seit 29 Tagen tot. Drei Wochen später haben David und ich geheiratet, nicht nur, aber auch damit er nicht in seine Heimat zurückkehren musste, nach Medellín, Kolumbien.

Die Stadt galt damals als einer der gefährlichsten Orte der Welt. Morde, Sprengstoffanschläge und Entführungen, in Auftrag gegeben von Pablo Escobar oder einem seiner Konkurrenten, die mit dem weißen Pulver Milliarden machten. Die Gewalt sickerte wie Säure ins Fundament der Gesellschaft. Ich könnte erzählen von meiner Schwiegermutter, die ihren Enkel hütete, während draußen an einem Nachmittag drei Autobomben detonierten. Von meinem Schwiegervater, den zwei Bewaffnete zwangen, sie in die Berge zu fahren, unterwegs diskutierten sie, ob es nicht besser wäre, ihn am Ziel zu erschießen. Bei Besuchen lässt er mich bis heute ungern allein auf die Straße, und wenn ich trotzdem gehe, würgt ihn die Angst mit Asthmaanfällen, obwohl es in Medellín viel ruhiger geworden ist.

Inzwischen ist Mexiko eines der blutigsten Schlachtfelder der Drogenkartelle. Mehr als 200.000 Menschen sind dem Drogenkrieg dort seit der Jahrtausendwende zum Opfer gefallen. Hinzu kommen die Toten in Kolumbien, in Brasilien, in Honduras, in Guatemala, in El Salvador. Der illegale Handel führt zu Mord und Totschlag, er brandbeschleunigt Korruption und Bürgerkriege. Aber das wissen Sie ja alles selbst. Sie lesen Zeitung.

Wahrscheinlich haben Sie auch eine der Serien gesehen, die seit einiger Zeit auf Netflix laufen: Narcos über Aufstieg und Fall von Pablo Escobar oder El Chapo über das Leben des mexikanischen Drogenbosses Joaquín Guzmán Loera. Es spritzt viel Blut, Frauen werden vergewaltigt und geköpft, Widersacher gevierteilt, Kinder über Brückengeländer geworfen. Diese Serien sind keine Telenovelas. Sie segeln hart an der Wirklichkeit.

Es könnte jetzt ganz einfach sein: Wer ein Produkt konsumiert, an dem mehr Blut klebt als an allen H&M-T-Shirts und iPhones zusammen, könnte schlicht aufhören, dieses Produkt zu kaufen. Fertig. Hey, hey, Konsumentenpower. Ich kenne Menschen, die sagen, sie seien Vegetarier geworden, nachdem sie im Fernsehen eine Doku über Massentierhaltung gesehen haben. Wir interessieren uns brennend für die Umstände, unter denen unsere Lebensmittel hergestellt und Nutztiere gehalten werden. Nur bei Drogen sind den meisten Menschen diese Umstände dermaßen egal, als hätten sie gerade welche eingeworfen.

Vielleicht fragen Sie jetzt: Was hat das mit mir zu tun? Ich kokse ja gar nicht, ich kenne auch niemanden, der kokst. Wirklich?

Meine Mutter, die früher Lehrerin war, hat das auch so gesehen. Bis vor einigen Jahren an ihrer Schule eine junge Kollegin im Referendariat an einer Überdosis Kokain starb. Es geht nicht nur um Models und Broker und ausgesuchtes Glamourpersonal, das sich auf schwarz gekachelten Toiletten die Nasenscheidewände durchbrennt. Selbst Referendarinnen koksen, um dem Druck im Job standhalten zu können. Auch deshalb steigt die Nachfrage, seit Jahrzehnten – trotz Strafverfolgung.

Studien des Schweizer Wasseranalyse-Instituts Eawag, das regelmäßig Abwässer europäischer Städte auf Kokainrückstände untersucht, zeigen, dass in Dortmund mittlerweile mehr gekokst wird als in Berlin oder München – und das nicht am Wochenende, sondern vor allem unter der Woche. 2017 wurden in deutschen Seehäfen rund sieben Tonnen Kokain sichergestellt, 2015 waren es noch 732 Kilo. In den vergangenen beiden Jahren hat sich die Koka-Anbaufläche in Kolumbien verdoppelt. Das Land produziert mehr Kokain als jemals zuvor.

Man sollte es sein lassen. Niemand muss koksen, vor allem die nicht, denen es wirklich dreckig geht. Kokain ist keine Schieß-mich-weg-Droge wie Heroin, die man vielleicht irgendwann anfängt zu nehmen, weil zu viel schiefgelaufen ist im Leben und sich die Wirklichkeit anders nicht mehr ertragen lässt. Kokain ist zum Durchhalten da, zum Länger-Arbeiten, Länger-Feiern, Länger-Tanzen, Länger-Vögeln.

Man sollte es sein lassen, aber das wird nicht passieren. Menschen berauschen sich, seit es Menschen gibt. Und irgendwie ist es halt auch eine Zumutung, Fragen dieser Tragweite dem Moralempfinden von Verbrauchern zu überlassen. Die meisten haben wenig Zeit und viel um die Ohren, da will der eine oder andere wenigstens beim Koksen seine Ruhe haben. In Ordnung, versteh ich. Nur muss dann der Staat dafür sorgen, dass der Preis für diese Indifferenz nicht an anderen Enden der Welt bezahlt wird. Und bei Kokain funktioniert das ganz augenscheinlich nicht, indem man die Droge verbietet – aber, und jetzt kommt’s: sehr wahrscheinlich, indem man sie legalisiert.

In der Bild-Zeitung sorgte André Schulz, damals Vorsitzender des Bundes der Kriminalbeamten, mit seiner Forderung für Aufsehen, den Cannabis-Konsum in Deutschland zu entkriminalisieren: »Die Prohibition von Cannabis ist historisch betrachtet willkürlich erfolgt und bis heute weder intelligent noch zielführend.« Dasselbe gilt für Kokain, ursprünglich ein Produkt der deutschen Chemieindustrie, das 1930 verboten wurde.

»Die Zeit der Verbote ist vorbei«, sagte der ehemalige mexikanische Präsident Vicente Fox, als ich ihn vor ein paar Jahren zu einem Interview traf. »Welche Drogen, Herr Präsident?« – »Alle, alle, alle. Vom Anbau über den Vertrieb bis zum Konsum.« Auch andere frühere Spitzenpolitiker sehen das so, zum Beispiel die ehemaligen EU- und UN-Generalsekretäre Javier Solana und Kofi Annan. Gemeinsam veröffentlichten sie im Juni 2010 eine Erklärung: »Der Krieg gegen die Drogen ist gescheitert.«

Auf den Cannabis-Feldern hat sich seitdem einiges getan, obwohl die Droge lange Zeit weltweit ebenso geächtet war wie Kokain. Seit viele Staaten den Weg zur Entkriminalisierung eingeschlagen haben, ist der Handel mit Cannabis für die Kartelle weniger attraktiv. Stattdessen werden in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá Unternehmen aus dem Norden des Kontinents vorstellig, die sich um Lizenzen für den Anbau von medizinischem Marihuana bewerben. Gras wächst in Kolumbien einfach wahnsinnig gut.

So ähnlich könnte auch die Zukunft der Koka-Pflanze aussehen. Eine neue Studie der Open Society Foundation kommt zu dem Schluss, dass ein legaler Markt für Koka ganz erheblich dazu beitragen könnte, die Gewalt in Kolumbien einzudämmen. Denn trotz des Friedensabkommens mit der Farc ist die Lage in vielen Teilen des Landes nach wie vor dramatisch.

Gäbe es einen legalen Koka-Markt, wären Bauern nicht mehr vor die Wahl gestellt, Bananen anzubauen und in Armut zu leben oder ihre Koka-Ernte auf dem Schwarzmarkt an Narcos zu verkaufen. Sie hätten zusätzliche, sicherere Optionen. Die Pflanze ist vielseitig und lässt sich auch für Lebensmittel und Medikamente nutzen. Die Wissenschaftler weisen allerdings auf die Risiken hin, die fortbestehen, solange Kokain verboten bleibt und Drogenhändler in der Lage sind, höhere Preise zu bieten und die Landbevölkerung mit Waffengewalt einzuschüchtern.

Was aber wäre, wenn die Bauern ihr Koka zu festen Preisen an staatlich geprüfte Unternehmen verkaufen könnten, die das Kokain produzieren? Firmen, die zur Herstellung notwendige Chemikalien nicht in den Urwald kippen und Böden verseuchen, sondern sie ordentlich entsorgen? Die unter strenger Aufsicht eine Droge herstellen, die zertifiziert und rein den Markt erreicht? Wenn Staaten Steuern auf den Verkauf erheben und in die Prävention investieren? Was wäre dann?

– Konsumenten, die sich den Rausch schon heute nicht verbieten lassen, hätten sauberen, weniger schädlichen Stoff,

– die zahllosen lateinamerikanischen Kartelle verlören eine wichtige Einkommensquelle und damit auch Macht,

– Länder wie Kolumbien hätten eine echte Chance auf Frieden.

Natürlich fallen einem jetzt sofort die Argumente ein, die auch Kritiker der Cannabis-Legalisierung ins Feld führen: 1. Das Zeug ist gar nicht mal so harmlos. 2. Wenn das Zeug legal ist, nehmen es alle, vor allem Jugendliche.

In der Tat ist weder Cannabis noch Kokain harmlos. Das ist aber nicht der Punkt. Vielmehr geht es um die Frage, ob man ein jahrzehntealtes Verbot als wirkungsvolles Instrument zur Drogenbekämpfung bezeichnen kann, wenn die Konsumentenzahlen bestenfalls stagnieren.

Lasst sie in Coffeeshops koksen. Von mir aus auch in irgendwelchen staatlichen Stellen unter maximal uncoolen Neonröhren, bei denen Nutzer registriert und zu medizinischer Beratung verpflichtet werden, Stellen, die den Stoff nach eingehender Prüfung in geringen Dosen ausgeben und das Konsumverhalten im Auge behalten. Die fachlich qualifiziert intervenieren können, falls es kritisch wird. Das ist mehr, als jede Trinkhalle gegenwärtig zu bieten hat.

Was das zweite Argument betrifft, fällt die Gegenrede schwerer, weil es für die Legalisierung von Kokain bisher praktisch keine Vorbilder gibt. Bei Marihuana lohnt ein Blick in die Niederlande, wo der Besitz geringer Mengen seit Jahren nicht mehr verfolgt wird. Studien zufolge kiffen dort dennoch unwesentlich mehr Menschen im Alter zwischen 15 und 34 (16 Prozent) als in Deutschland (13 Prozent) und deutlich weniger als in Frankreich (22 Prozent), obwohl dort ein strenges Verbot herrscht. In Portugal, wo sowohl der Besitz von Kokain als auch von Heroin nur als Ordnungswidrigkeit geahndet wird, ist der Konsum illegaler Substanzen gesunken, gerade bei 15- bis 24-Jährigen. Es gibt auch weniger Drogentote. Das Geld, das für die Strafverfolgung aufgewendet wurde, fließt jetzt in die Prävention.

Mich überraschen diese Zahlen nicht. Wie viele Menschen diesseits der Abhängigkeit führen sich freiwillig dauerhaft schädliche Substanzen zu, nur weil sie es können? Mir verbietet schon heute niemand, mich jeden Abend vor dem Schlafengehen mit zwei Flaschen Korn zuzulöten. Dass ich darauf verzichte, hat viel mit einem Trieb namens Selbsterhaltung zu tun.

Ich weiß, was Sie jetzt sagen. Obacht, sagen Sie jetzt. Geht das gesellschaftliche Miteinander nicht völlig vor die Hunde, wenn jeder, der will, dauerdrauf ist und das nicht nur auf freundlichem Marihuana, sondern auch auf dem richtig harten Zeug? Wer schützt unsere Kinder?

Nun, das sehen wir dann. Wenn es unser Problem ist. Weil es unser Problem ist, wenn Bundesbürger Lust auf Koks haben, nicht das der lateinamerikanischen Zivilbevölkerung, die im Drogenkrieg Jahr für Jahr für Jahr für Jahr zwischen die Fronten gerät. Das Ende der Prohibition ist keine bekloppte Hippie-Idee. Es wird nicht nach Räucherstäbchen riechen, wenn wir fertig sind.

im August 2018 erschienen in DIE ZEIT
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