Mein Traum

Es geschieht oft, dass man im Urlaub an einem Strand liegt, an dem das Meer die perfekte Farbe hat, der Sand die perfekte Körnung, das Wasser die perfekte Temperatur, und der Weg, der zu diesem Strand führt, ist nicht lebensgefährlich, aber unangenehm genug, um dafür zu sorgen, dass der Strand selbst während der Hochsaison nicht überlaufen ist. Genauer: Ich habe im Sommer oft an einem solchen Strand gelegen, auf einer der zahllosen griechischen Inseln. Und dachte: Eigentlich solltest du über diesen fabelhaften Strand was schreiben.

Dann dachte ich nach, wie man das Ganze aufziehen könnte, ging baden, ließ mich von der Sonne trocknen, dachte weiter nach, ging noch mal baden, aber am Ende fiel mir meistens nicht viel mehr ein als: Mein Gott, ist das schön hier! Und ich ließ es bleiben.

Dabei ist das ja wichtig. Vielleicht zeichnet sogar gerade dieses Gefühl glücklicher Sprachlosigkeit Orte aus, die sich besonders gut dazu eignen, an ihnen von wirklich allem auszuruhen.

Auf einem Armband, das ich vor einigen Jahren in Athen gekauft habe, ist eingraviert, über wie viele Kilometer Küstenlinie Griechenland verfügt: mehr als 15.000. Ich muss mich gerade auf diese Angabe verlassen, weil ich in unserem Ferienhaus seit einer guten Woche keinen Zugang zum Internet habe. Der Anbieter hat vor drei Tagen angekündigt, den Schaden gestern zu reparieren, aber es kam niemand. 15.000 Küstenkilometer also, consider it googled. Zwei davon haben es mir besonders angetan, seit ich sie vor vier Jahren zum ersten Mal gesehen habe, von einer 200 Meter hohen Steilklippe aus: Egremni Beach, ein langes weißes Band, gesäumt von türkisblauem Meer, menschenleer, und ich kann nichts dafür, dass auch noch ein Kiefernzweig ins Blickfeld ragte, um die Sehnsucht perfekt zu machen. Egremni Beach, der Ort, an dem ich in der Sonne liegen will since 2017.

Das letzte Erdbeben lag damals gerade zwei Jahre zurück. Lefkada, eine Ionische Insel südlich von Korfu, an deren Westküste sich der Strand entlangstreckt, ist leider etwas anfällig dafür. Auf YouTube gibt es ein Video, das zeigt, wie der gesamte Strand in einer riesigen Staubwolke versinkt. Die Straße, die oben zur Steilklippe führte, wurde dabei ebenso zerstört wie die Treppe von dort hinunter zum Strand. Egremni gilt als einer der schönsten Strände Griechenlands. Bei 15.000 Kilometern Küstenlänge, ich erwähne das nur noch mal.

Seitdem bin ich jeden Sommer für ein paar Tage zurückgekehrt. Und jeden Sommer hieß es, noch sei es leider nicht so weit, aber im nächsten Jahr, ganz sicher. Unterdessen schleppten Partyboote mehrmals täglich Touristen auf dem Seeweg nach Egremni. Aber ich wollte nicht mit dem Taxi zum Baden fahren, schon gar nicht, wenn es ein Shuttle ist, mit festen Uhrzeiten. Ich wollte meinen eigenen Weg gehen. Nur war der halt kaputt. Es gibt ja auch noch andere Strände auf Lefkada.

Im April 2021, wir waren Anfang des Monats angekommen, stießen wir im Internet auf ein Video, auf dem jemand, der sich die Kamera vermutlich vor die Stirn geschnallt hat, die Treppen zum Strand von Egremni hinunterläuft. Das Video dauert fast vier Minuten, es sind sehr viele Stufen. Und sie machen einen stabilen Eindruck, jedenfalls erreicht der Protagonist unbeschadet den Strand. Also setzten wir uns ins Auto. Fuhren über die kurvigen Straßen der Insel, von denen ich behaupte, dass kein einziger Fels für ihren Bau gesprengt worden ist, serpentinige Straßen, auf denen wir in den vergangenen Jahren schon Füchsen, Schildkröten und Fröschen ausgewichen sind, Ziegen und Schafherden sowieso. Die Zivilisation hat sich auf Lefkada nie machtvoll durchgesetzt, sie liegt bestenfalls lose auf. Viele Sommergäste wissen nicht, dass es hier im Frühling häufig regnet. Die Insel ist deshalb sehr grün, ein Paradies.

Unsere Fahrt endete etwa einen Kilometer vor unserem Ziel an einem Tor, das durch ein Fahrradschloss zusammengehalten wurde, daneben ein Zaun sowie ein Schild, dessen Aufschrift wir mangels Griechischkenntnissen nicht entziffern konnten, aber der Tenor der Piktogramme war eindeutig: ein Ausrufezeichen im Dreieck, eine abwehrend ausgestreckte Hand, ein Mann mit Helm. Zusammengefasst: Geh weg.

Wie zum Hohn befand sich das Tor auf der Höhe eines Felsvorsprungs, von dem aus man einen Blick auf den hinreißend schönen, menschenleeren Strand werfen konnte. Es roch nach Kiefernnadeln, und am Boden blühten rosarote Zistrosen. Ein paar Bauarbeiter in Pick-ups näherten sich dem Zaun von der anderen Seite. Ich fragte einen von ihnen, wann die Straße offiziell eröffnet werde. Er antwortete: »20 days«, ehe er das Tor wieder hinter sich schloss und davonfuhr.

Ich möchte an dieser Stelle kurz erwähnen, dass ich ein umsichtiger Mensch bin. Seit April 2020 trage ich klaglos Maske im öffentlichen Raum, in der jeweils verfügbaren Qualität. In diesem Frühling sind wir mit dem Auto auf dem Landweg und an Deck einer Fähre nach Griechenland gereist, um uns und andere nicht zu gefährden. Ich respektiere Verbote, solange ihr Sinn sich mir erschließt. Aber die Straße hinter dem Tor machte einen einwandfreien Eindruck, ein makelloses Band aus Asphalt.

Ich bat K., unsere Ansprechpartnerin bei der Ferienhaus-Agentur, um Rat. K. antwortete freundlich, sie werde sehen, was sie tun könne.

Als wir wenige Tage später miteinander sprachen, erzählte sie mir von einem Bekannten, der ein Boot besitze, mit dem er uns zum Strand von Egremni fahren könne. Zu diesem Zeitpunkt war es allerdings nur Fischerbooten gestattet, aufs Meer zu fahren. Ich wies K. auf das Problem hin. Sie sagte: Nimm eine Angelrute in die Hand, vielleicht fängst du was. Ich seufzte.

Ob es möglich wäre, als Journalistin eine behördliche Erlaubnis zu beantragen, ganz offiziell, ein Papier, das irgendjemanden dazu ermächtigen würde, das Fahrradschloss am Tor zu entfernen und uns Zutritt zu gewähren? Damit ich endlich, endlich, ENDLICH über den Strand schreiben könnte. Oder sei es doch am klügsten, die 20 Tage einfach abzuwarten? Das, erwiderte K., sei Unsinn. Der Zugang werde laut Bürgermeister erst in einem Monat eröffnet.

»Warum springt ihr nicht einfach über den Zaun?«, fragte K. nach einer Weile. Betretenes Schweigen. Wir wollten ungern Regeln brechen. Und wenn man den Behördenvertretern – K. unterbrach mich. Sie habe bereits mit der zuständigen Stelle telefoniert: »Die haben mich gefragt, warum ihr nicht einfach über den Zaun springt.« Und was war mit den Bauarbeitern? Wäre es nicht peinlich, von ihnen auf frischer Tat ertappt zu werden? »Die helfen euch, über den Zaun zu springen«, erwiderte K. »It’s what we do, it’s Greek.« 

Wenige Tage später parken wir den Wagen vor dem Tor, das den Zugang zum Strand von Egremni versperrt. Auf dem rechten Flügel hat jemand Stacheldraht drapiert, aber es wirkt nicht ernst gemeint, eher wie Lametta. Neben uns parkt ein Auto mit rumänischem Kennzeichen. Ein Pärchen steigt aus. Die Frau genießt die Aussicht auf dem Felsplateau. Der Mann tritt auf uns zu. Er will wissen, ob es stimmt, dass man mit einem Bußgeld belegt wird, wenn man über den Zaun springt. Wir lachen und fühlen uns dabei sehr griechisch. Dabei müssen wir nicht mal springen. Der Rumäne hat eine Stelle entdeckt, an der jemand eine Holzpalette auf den Zaun geworfen und liegen gelassen hat. Ich liebe dieses Land.

Die Sonne brennt, während wir die Serpentinen hinunterlaufen. Es fühlt sich an, als kenne man den Besitzer einer Bar, und er hat einem nachts den Schlüssel überlassen und darum gebeten, das Geld für die Drinks einfach auf den Tresen zu legen. Es ist ganz still, bis auf ein paar Zikaden, die zirpen, das tun sie ja immer. Ziegen kreuzen. Hinter einer Kurve bemerken wir eine Gruppe Bauarbeiter und tun kurz so, als würden wir die Aussicht genießen, bis uns klar wird, dass auch das an dieser Stelle verboten wäre. Wir laufen an ihnen vorbei und sagen Hallo. Sie sagen Hallo. Dann stehen wir vor der Treppe zum Strand. Und mir fällt ein, dass ich Höhenangst habe.

Die alten Stufen verwittern wie ein Kadaver unter der neuen Konstruktion, deren Träger in den Stein getrieben wurden. Auf der zweiten Hälfte der Strecke blinzelt der Abgrund durchs Geländer, es geht im Zickzack eine Klippe abwärts. Dass es insgesamt 412 Stufen sind, weiß ich, weil mein Mann sie zählt. Ich konzentriere mich darauf, nicht auszurasten. Auf einigen Stufen liegen kleine Felsbrocken, Schilder warnen vor Steinschlag. Ich muss an das YouTube-Video denken, an die Staubwolke und die Erdbebenwahrscheinlichkeit auf Lefkada. Aber unter mir kommt das Weiß immer näher, das Türkis, und die Bäume über uns sind längst klein wie ein Modelleisenbahnpanorama. Dann erreichen wir den Strand.

Er ist gigantisch. Linker Hand gesäumt von weißen Kalksteinfelsen, an denen die Spuren des gewaltigen Erdrutsches noch immer sichtbar sind. Kein Mensch in Sicht, auf zwei Kilometern Länge. Egremni Beach.

Es dauert eine Viertelstunde, bis das rumänische Pärchen den Strand erreicht und einen Sonnenschirm errichtet. Kurz darauf folgen zwei junge Männer, von denen einer im Vorübergehen freundlich grüßt, ehe er in respektvoller Entfernung die Badehose auszieht und seinen Spaziergang in freier Körperkultur fortsetzt. Alles andere wäre hier sowieso Quatsch.

Die Wellen rauschen. Das Meer hat die perfekte Farbe, der Strand die perfekte Körnung. Und ich meine … Mein Gott, ist das schön hier.

im Juni 2021 erschienen in DIE ZEIT

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