Im Estadio Nacional von Santiago bejubelte Chile Fußball-Erfolge, sprach
Fidel Castro, betete der Papst und ermordeten Pinochets Militärs hunderte Gefangener. Geschichten von einem Ort
Am 11. September 1973 verließ Carlos gegen 7.15 Uhr seine Wohnung in Santiago de Chile. Vier Wochen später kam er nach Hause zurück.
»Schon am Morgen sah man die Militärs an allen Ecken. Ich wohnte damals in derselben Straße wie heute, eine sozial privilegierte Gegend. Als ich zum Bus ging, sah ich Schüler der nahe gelegenen Privatschule auf der Straße tanzen. Und die Lastwagen mit den Soldaten. Ich war damals 23 Jahre alt und arbeitete als Lehrer an der Technischen Universität. Ich war verheiratet und hatte eine Tochter. Claudia.
Am Vorabend hatte das Nationalfernsehen im letzten Nachrichtenblock vor Mitternacht über einen bevorstehenden Putsch berichtet. Schiffe der chilenischen Marine in Valparaíso hatten den Hafen verlassen. Merkwürdige Bewegungen. Wir wussten mehr oder weniger, was uns bevorstand, aber in diesem Land begegnet man Nachrichten immer mit Vorbehalt. Hier wird schon nichts passieren.
Wer sagt, die Unidad Populär von Salvador Allende habe das Land in ein Chaos gestürzt – nein, das stimmt nicht. Es war eine Zeit des Aufbruchs für junge Leute, die etwas verändern wollten. Zum ersten Mal hatten die Armen zu Essen, Zugang zur Bildung. Nie zuvor und niemals danach hat in Chile jedes Kind einen halben Liter Milch am Tag bekommen. Wir haben es geschafft, darauf bin ich sehr stolz.«
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Immer wieder spricht sie davon, dass es sehr kalt war im August 1948. Sehr kalt, sagt die Mutter und nickt, als stelle die Sonne draußen ihre Worte in Frage. Das Nationalstadion feierte seinen zehnten Geburtstag, als die Exilanten kamen. Die Stefanowskys stammen aus der Ukraine. Erst marschierten die Deutschen ein, nach dem Krieg dann die Russen – man wusste nicht, was schlimmer ist, sagt Marta Stefanowsky. Sie war damals fünf Jahre alt. Dass die Familie vorm Kommunismus floh, ist ihr wichtig. Keine jüdische Auswanderung, nein, sie seien Antikommunisten, damals wie heute.
Das Schiff, das sie nach Valparaíso brachte, war einen Monat unterwegs, der zweite von drei Flüchtlingstransporten. Mit Bussen brachte man sie ins Nationalstadion, kontrollierte ihre Zähne und Pässe und gab ihnen zu Essen. Martas Mutter, die heute 80 Jahre alt ist, sagt, es sei sehr kalt gewesen unter der Tribüne.
Der Raum mit den Feldbetten war in Nieschen unterteilt, etwa 30 Leute in jedem Verschlag. Wenn draußen auf dem Rasen Fußballspiele stattfanden, schauten sie durch Löcher im Holzzaun zu. Es war sehr kalt und regnete viel.
Einheimische, die kamen, um Hilfskräfte auszusuchen, bevorzugten Männer ohne familiären Ballast. Ein Priester brachte die Kinder in einem Internat unter, für zwei Monate, die Marta länger erschienen. Erst gaben ihr die Schwestern rohe Muscheln gegen die Mundfäule zu essen, dann zogen sie dem Mädchen die Zähne. Der Vater fand Arbeit in der Milchzentrale. Sie verließen das Stadion und kehrten nie zurück.
Dass es zwei Amerikas gibt, hatte ihnen vor der Abreise niemand erzählt. Sie sagt, die Armut habe sie enttäuscht, als sie ankamen. Wenn die Mutter heute am Nationalstadion vorbei läuft, versucht sie, nicht an den Winter zu denken. Sie hatten keinen Hunger, sagt sie, aber kalt war es.
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»Am 11. September wollten wir in der Technischen Universität um 11 Uhr eine antifaschistische Ausstellung eröffnen. Salvador Allende sollte kommen. Mehr noch: Der Präsident hatte davon gesprochen, das Volk in eben dieser Rede zu einem Plebiszit aufzurufen. Vielleicht hat das den Putsch beschleunigt. Wir hatten gedacht, es könnte am 19. September passieren, während der Militärparade. Der 18. September ist der Tag der Unabhängigkeit, der 19. Tag des Militärs.
Wir versammelten uns in der Universität und beschlossen, alle Dokumente zu vernichten. Ich war damals kommunistischer Aktivist und bin es heute noch. Während wir die Papiere zusammensuchten, fing das Militär an, den Präsidentenpalast, die Moneda, zu bombadieren. Man konnte die Detonationen hören, vom Dach aus sahen wir die Rauchsäule. Wir waren etwa 400 Studenten und Professoren, würde ich sagen, und neue Leute kamen dazu, unter ihnen auch Persönlichkeiten wie der Musiker Victor Jara. Draußen schlossen die Soldaten den Kreis um uns, niemand konnte mehr raus. Um sechs Uhr erfuhren wir vom Tod Allendes. Dann kappten sie uns die Telefonleitung, die Strom- und Wasserversorgung.«
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März 2000. Die Schritte hallen unter der Tribüne durch lange Gänge in kaltem Licht. In den Umkleidekabinen haben sie gefoltert, in den Aufgängen zum Stadion gemordet. Draußen auf dem Rasen wächst die Bühne für ein Konzert zum Gedenken an die Verschwundenen der Militärdiktatur. Großscheinwerfer greifen aus dem Himmel über die oberen Sitzreihen.
Die Internet-Homepage des Stadtviertels Ñuñoa weist das Nationalstadion als Sehenswürdigkeit aus. Wegen der »ruhmvollen Episoden nationaler Sportgeschichte«. Nach Fußballspielen beklagen Nachbarn Schäden, die randalierende Fans an Gebäuden und Fahrzeugen anrichten.
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»Wir fingen an, uns auf das Gebäude zu verteilen. Gegen acht Uhr begann ein höllischer Beschuss. Es war furchtbar. Wir fingen an zu begreifen, was das bedeutet, ein Putsch, ein Krieg, das Schlachten. Unter uns war ein Journalist vom Kanal 9, den man den Wilden, el salvaje, nannte. An diesem Abend sprach ich mit ihm. Der Wilde machte sich Sorgen, weil er nichts von seiner Frau und seinen Kindern gehört hatte. Er war sehr nervös. Gegen halb zehn hörten wir einen Helikopter, der mit einem Scheinwerfer über den Campus flog. Als der Wilde raus lief, um den Hubschrauber zu fotografieren, wie er in der Luft steht und auf die Universität feuert, erschossen sie ihn.
Die Nacht war infernalisch. Wir konnten die Verletzten nicht versorgen und hatten keine Waffen. Steine hätten wir werfen können, mehr nicht. Vier Compañeros boten an, mit einer weißen Fahne nach nebenan zur Polizeistation der Carabineros zu gehen, wegen der Verletzten. Auch sie wurden erschossen.«
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Weihnachtsfeier der Universidad Catolica im Nationalstadion, 1949. Es heißt, die Flügel des Engels hätten Schatten auf die künstlichen Wolken geworfen. Er schien zu schweben, als er mit dem Christkind im Arm auf den Rasen herabstieg. Betlehem als Inszenierung im Mittelfeld, 14 Busladungen echter Schafe und der Chor sang Gloria, der Herr segne Himmel und Erde.
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»Am nächsten Morgen hörten wir gegen halb sieben das Geräusch von Stiefeln auf Asphalt. Dann sprengte eine Panzerfaust die Tür zur Calle Ecuador. Um sieben Uhr gab es einen heftigen Schlag gegen die Tür. Die Soldaten kamen rein und nahmen uns mit. Sie führten uns auf den Hof. Wir mussten uns auf den Bauch legen, die Hände im Nacken gefaltet, die Beine gespreizt. Sie traten uns. Die Hitze war an diesem Morgen unerträglich. Wir lagen auf einem Fliesenboden. Als ich aufstand, merkte ich, dass ich mir an den heißen Kacheln die Stirn verbrannt hatte.
Vor der Universität standen Busse. Wir mussten uns zwischen den Sitzreihen auf den Boden knien, damit es von der Straße her so aussah, als seien die Busse leer. Sie fuhren uns ins Estadio Chile.
Damals wurde an der Metro gebaut. Der Verkehr kroch zäh an einer Baugrube vorbei, in der Leichen lagen. Man geht davon aus, dass die Metro auf einem Fundament aus Toten fährt – nicht nur solchen, die als verschwunden gelten. Viele Familien haben nie eine Vermisstenanzeige erstattet, weil sie Angst hatten oder glauben, dass ihre Angehörigen im Exil leben.
Als wir ankamen, waren schon sehr viele Leute da, vielleicht 5000 – Studenten, Professoren, Regierungsmitglieder. Wir durften uns nicht bewegen, nicht sprechen. Um zur Toilette gehen zu dürfen, musstest du auf dem Bauch einmal um das gesamte Stadion kriechen.
Ich war fünf Tage dort. Dreimal brachten sie mich zu Verhören. Einmal sah ich auch Victor Jara. Mit einem Blick, der sagte: Ánimo, sei stark, Compañero.«
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Heute trägt das Estadio Chile den Namen eines Opfers: Victor Jara, Musiker, Schauspieler und Regisseur, unterstützte Salvador Allende im Wahlkampf und galt dessen Anhängern als Verbündeter. Im Estadio Chile brachen sie ihm zuerst die Finger, damit er nicht mehr Gitarre spielte. Er soll weitergesungen haben, »Venceremos«. Dann erschossen sie ihn. Die Presse meldete: »Victor Jara ist gestorben. Er hinterlässt Frau und zwei Töchter und wurde in privatem Kreis beerdigt.«
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»Meine Familie hatte seit dem 11. September nichts mehr von mir gehört. Ein Freund riet meinem Bruder, der in diesen Jahren ein kleines Busunternehmen leitete, den Befehlshabern seine Dienste anzubieten, um Zugang zu den Lagern zu bekommen. Er begann, mich zu suchen. Eines Tages sah ich ihn im Stadion. Ich wusste, sie konnten ihn nicht verhaftet haben, mein Bruder war ein Gegner der Unidad Popular von Allende. Er ging zu einem der Soldaten und sagte: Bringen Sie mir diesen Gefangenen.«
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Nach vier Wochen endete 1971 Fidel Castros Chile-Reise, die nur wenige Tage hatte dauern sollen. Sein Aufenthalt war für Allendes Gegner ein Menetekel auf dem »friedlichen Weg zum Sozialismus«. Carlos war im Nationalstadion, als der Comandante en Jefe am 2. Dezember bei seiner Abschiedsrede sagte, was ihn während seines Besuchs besonders beeindruckt habe, seien die Worte des Präsidenten Allende, mit denen er seiner Entschlossenheit Ausdruck verleihe, die Sache seines Volkes zu verteidigen. Um seinetwillen sei er Präsident und werde diese Aufgabe erfüllen, bis er sein Mandat beende oder man ihn tot aus dem Präsidentenpalast trage. Die Redemitschrift verzeichnet an dieser Stelle Applaus. Man möge ihm erlauben, mit den Worten zu schließen, mit denen auch seine Ansprachen auf Kuba endeten. Patria o Muerte! Venceremos!
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»Mein Bruder flüsterte mir zu: Ich versuche, dich hier rauszuholen, aber ich kann nichts versprechen. Er gab mir eine Zigarette, und ich ging zurück an meinen Platz. Nachts holten sie mich zum Verhör. Sie wollten Namen wissen, fragten nach Studentenführern. Natürlich kannte ich viele der Leute, aber ich hatte Glück, sie fragten nach Decknamen, die mir nichts sagten. Ich erkannte viele der Militärs wieder. Sie hatten als Professoren an der Universität gearbeitet, Leute mit langem Haar, engagiert. Wir waren total infiltriert. Die Opposition hatte die Technische Universität immer als rote Hochburg betrachtet, wo die Kommunisten studieren.
Der Mann, der neben mir saß, war etwa 35 Jahre alt. Es ging ihm sehr schlecht, psychisch, meine ich. Er dachte viel an seine Kinder und seine Frau – etwas, das ich immer versucht habe zu vermeiden, weil ich wusste, es würde mich umbringen. Ich zwang mich, nicht an meine Tochter zu denken. Sie war damals zwei Jahre alt.
Ánimo compañero, sagte ich und klopfte dem Mann aufs Bein. Er drückte meine Hand und weinte. Plötzlich sprang er auf, rannte den Gang runter und stieß mit dem Kopf gegen die Wand, er warf sich richtig dagegen. Dann stand er auf, nahm Anlauf und schlug wieder gegen die Mauer. In gewisser Weise löschte er sich selbst aus. Sie brachten ihn weg, er starb wenig später.
Mit einem Mikrofon verlas Comandante Manrique, der Hauptkommandant im Estadio Chile, Nachrichten von draußen. Er sprach auch vom Tod Allendes. Ein Compañero stand auf und schrie: Tod dem Faschismus. Es lebe die Unidad Popular. Es lebe der Genosse Salvador Allende. Comandante Manrique nahm sich Zeit, kam auf ihn zu und erschoss ihn. Kaltblütig. So sehr du dich darauf vorbereitest, es trifft dich. Das sind Dinge, die einen zeichnen.«
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Pablo Neruda füllte mit Gedichten Arenen und schrieb: Ein Dichter, der seine Verse vor hundertdreißigtausend Menschen liest, bleibt nicht derselbe, er kann nach dieser Erfahrung nicht weiterschreiben wie bisher. 1971 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Carlos war dabei, als die Chilenen Neruda nach seiner Rückkehr im Nationalstadion empfingen.
»Suchen Sie nur, Herr Hauptmann«, sagte der Dichter, als die Soldaten sein Haus durchsuchten, »hier gibt es nur eins, was Ihnen gefährlich werden könnte«. Der Offizier griff nach seiner Waffe. – Was denn? Die Poesie, antwortete Neruda. Er starb wenige Tage nach dem Militärputsch.
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»Sie kamen mit großen Töpfen, heißes Wasser und Kartoffeln auf die Galerie, aber es war nicht genug für alle. Am Abend kam ein Soldat zu mir. Ich habe Brot, sagte er. Gut, gib es mir, erwiderte ich. – Nein, ich verkaufe es dir. Ich hatte Geld, 300 000 Escudos, das wären heute etwa 20 Dollar. Er verlangte 200 000.«
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Man musste damals für alles Schlange stehen, sagt Leonel Sánchez. Die Kommunisten verkauften Huhn. Aber nicht an ihn, weil er nicht zur Partei gehörte. Sie hätten gelitten damals, obwohl er sich nie irgendwo reingehängt habe. Später, erzählt er, verhaftete die Militärregierung alle Leute, die gegen sie waren, und weil die Gefängnisse voll waren, brachten sie auch Leute ins Nationalstadion. Eine sehr traurige Sache für das Land, sagt er, ein so kleines Land.
Leonel Sánchez, 63, wurde mit zehn Jahren entdeckt. Zwei Weltmeisterschaften, 108 Länderspiele, 14 Jahre lang Mannschaftskapitän der chilenischen Fußballnationalmannschaft. Heute trainiert er die Kinderelf seines Vereins.
Zwei Jahre zuvor war in Lissabon die Entscheidung für Chile als Austragungsort der WM 1962 gefallen. Als beim Eröffnungsspiel im Nationalstadion das erste Tor für die Schweiz fiel, war es still im Nationalstadion. Sánchez schoss den Ausgleichstreffer. Chile gewann 3: 1.
An einem Samstag spielten sie zum letzten Mal im Nationalstadion und feierten den dritten Platz, als wären sie Weltmeister geworden. Leonel Sánchez sagt, die Leute liebten ihn bis heute. Damals antwortete man auf die Frage: Wer spielt? – Leonel Sánchez und zehn andere.
Im November 1973 räumte das Militär das Stadion für ein WM-Qualifikationsspiel zwischen der Sowjetunion und Chile, die Gefangenen wurden in andere Lager gebracht. Aus Prostest gegen den Putsch trat die UdSSR nicht an. Chile ging allein auf den Rasen, und irgendjemand schoss das 1:0. Im gleichen Jahr beendete Leonel Sánchez seine Karriere als Profispieler.
Er erinnert sich, dass Leute im Stadion Kerzen anzündeten wie an einem Grab. Wenn etwas verboten ist, soll man sich daran halten, sagt Sánchez. Aber es gab Leute, die trotzdem dumme Sachen machten. Wie sein Cousin von der Druckergewerkschaft. Er ging auf die Straße, um zu protestieren. Die Familie hat nichts mehr von ihm gehört. Wenn das Militär herrscht, geht man nicht auf die Straße, sagt Sánchez. Da wirst du immer verlieren.
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»Das Nationalstadion war schlimm. Sie leisteten präzisere Arbeit dort, waren selektiver. Der Typ mit der Kapuze stand plötzlich vor dir, führte dich ab und brachte dich zum Verhör. Das System war so: Einer verhört dich, anständig. Dann kommt ein anderer, der dich schlägt und alles mögliche macht. Bis du redest. Ich habe mich gezwungen, Telefonnummern zu vergessen. Ich vergaß sie wirklich. Heute kann ich nicht mehr ohne mein Telefonbuch sein, weil ich mir keine Nummern merke.
Ich bin kein Held. Viele sind unter der Folter zusammengebrochen, aber im Vergleich zu dem, was sie anderen angetan haben, ist mir überhaupt nichts passiert. Ich hatte Glück. Ich bin nicht katholisch, aber ich glaube, es gibt da etwas, das größer ist als wir. Woher ich die Ruhe genommen habe? Ich erinnere mich nicht, jemals sehr nervös gewesen zu sein. Da war irgendetwas, das mich beschützt hat.«
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Juan Pablo stand hinter dem Papst auf der Galeria Norte und hielt die Hand eines Mädchens, an dessen Namen er sich nicht erinnert. Er hatte sie beim Vaterunser gefasst und nicht mehr losgelassen. Als der Papst ins Stadion fuhr und eine Runde im Papamobil drehte, mit hochgestreckten Armen, als hätte er ein Spiel gewonnen, applaudierte die Menge. Die Hand des Mädchens fing an zu schwitzen. Geküsst haben sie sich nicht. Juan Pablo glaubt, dass Papst Johannes Paul II. daran Schuld war.
Man musste früh kommen, Schlange stehen und auf der Straße verkauften sie T-Shirts. 1987 kam der Papst zum ersten und einzigen Mal nach Chile. Zuvor hatte niemand von einem Plebiszit über die Pinochet-Regierung gesprochen. Pablo glaubt, dass der Besuch etwas verändert hat.
Das war wie ein Fest, sagt er, wir kamen nicht wegen des Papstes, wir wollten Frauen anschauen. Einige trugen Schilder unterm Hemd, einzelne Buchstaben um den Körper gewickelt, die sie im Stadion zusammensetzten. Pinochet asesino. Mörder.
Der Papst segnete die Arena, »dieses Stadion so vieler Freuden und so viel Leids«, die Menge antwortete »hier wurde gefoltert, hier wurde gemordet«. Die Privatkapelle für den Papst hatte man in einer der Umkleidekabinen eingerichtet.
Legendär ist sein Dialog mit der Jugend. – Schwört Ihr der Lüge ab? – Ja, antworteten sie. – Schwört Ihr der Ungerechtigkeit ab? – Ja, antworteten sie. – Schwört Ihr dem Sex ab, fragte er. – Nein.
Später, als er die Frage vervollständigte, schwor die Menge artig »dem Sex ohne Liebe« ab. Öffentlich wurde über die Angelegenheit nicht gesprochen, aber im Fernsehen häuften sich Beiträge über Liebe und Beziehungen.
Juan Pablo erinnert sich an die Männerausflüge ins Nationalstadion, mit seinem Vater und den beiden Brüdern zu Fußballspielen der Universidad de Chile. Seine Familie hat ihm nie von den Verschwundenen erzählt, sagt er, aber er hörte die Gespräche der Erwachsenen. Wenn er als Kind im Stadion auf die Toilette ging, fürchtete er sich vor den Schatten der Gefangenen, Vergessenen, die vielleicht nicht rauskommen wollen, weil sie Angst haben, dass man sie umbringt. Es war wie ein Geheimnis, das er als Kind mit dem Stadion hatte, sagt er. Weder schön noch traurig, einfach ein Geheimnis.
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»Im Nationalstadion gibt es ein Velodrom, wo die Radrennen stattfinden. Dort erschossen sie die Leute, normalerweise nachts. So konnten sie die Leichen unbeobachtet wegschaffen. Sie brachten auch mich an diesen Ort. Es gab viele Scheinhinrichtungen im Nationalstadion.
Sie verbinden mir die Augen, sie stellen mich vor eine Wand und … Du fühlst nichts. Du spürst den Tod, wie er an dir vorbeistreift. Du hörst die Schüsse. Aber es waren Platzpatronen. Das ist Töten auf Raten. Zum Glück habe ich das nur einmal erlebt, andere mussten das mehrfach mitmachen. Der Rest waren, sagen wir: traditionelle Verhöre. Schläge, harte Schläge. Es waren junge, wütende Leute, die um des Tötens Willen mordeten. Wie in einem Tierkäfig. Du nimmst eins raus, erschießt eines mehr, was macht das? Sie mussten den Tod nicht rechtfertigen.«
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80000 Menschen versammelten sich 1993 zum internationalen Treffen der Zeugen Jehovas im Nationalstadion. Wenn Jost Luis Fortuny, seinerzeit Pressereferent, mit hoher Stimme aus der Bibel liest, klingt das Evangelium wie ein Märchen mit guten Feen. Vier Tage waren Familie, Paar und Arbeit gewidmet. Um den Menschen beizubringen, an der Freude teilzuhaben, sagt Fortuny. Die Nutzung als Konzentrationslager spiegele nicht den Geist des Stadions. »Wir sehen nach vorne, in die Zukunft.«
1500 Menschen ließen sich im Nationalstadion taufen. Auf dem Rasen wurden runde Becken aufgebaut, tief genug, um ganz eintauchen zu können. Sie trugen Badeanzüge, solche, »die mit Bedacht ausgesucht sind, anständig«. Fortuny kichert.
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»Sie hatten Folterexperten aus dem Ausland, Brasilianer, Argentinier, Deutsche, das waren die Stimmen, die ich hörte. Wenn sie jemanden identifiziert hatten, fingen sie an. Zum Beispiel mit der Fingernagelbehandlung. Während der Verhöre rissen sie dir die Nägel aus. Sie schnitten, was weiß ich, Finger ab, das Kinn. Es ist bewiesen, dass Ärzte dabei waren. Du liegst auf dem Metalltisch, und sie sagen: Leite den Strom in den Penis, die Brüste, die Vagina. Bis hier, stopp, jetzt reicht’s. Präzise Arbeit. Sie wurden gut beraten.
Manchmal inszenierten sie eine Show für das Internationale Rote Kreuz und brachten uns auf die Galerie. Bei diesen Gelegenheiten teilten sie auch Essen aus, und wir mussten uns rasieren. Es waren immer kleine Gruppen, 2000 Leute, die sie auf die Galerie führten, um so zu tun, als seien es nicht so viele Gefangene. Ich würde sagen, wir waren 15 000. Zwei Mal durfte ich auf die Galerie. Dort blieben wir, bis die Beobachter gingen. Dann mussten wir wieder unter die Tribüne.
Wir waren untergebracht, wo die Umkleidekabinen der Fußballspieler sind. Ich schlief unter der Tribuna Pacifica, auf dem Zementboden, ohne Decken und Unterlagen. Nachts wurde es eisig kalt, und wir rückten alle zusammen. Wie man Löffelchen macht.«
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Der Präsident des Movimiento Independiente Pinochetista de Chile, Abraham Abrilot, rief im Februar 1988 dazu auf, im Nationalstadion des ökonomischen Chaos des »Allende-Regimes« zu gedenken und die Militär-Regierung zu unterstützen. Im Oktober 1989 kamen Anhänger des Präsidentschaftskandidaten Hernán Büchi, ehemals Finanzminister Pinochets, zu einer Veranstaltung im Stadion zusammen.
Im März 1990 feierten 70 000 Anhänger des gewählten Präsidenten der Concertación, Patricio Aylwin, im Estadio Nacional den Wahlsieg und das Ende der Diktatur. Zum Beginn spielte der Pianist Roberto Bravo seine Version von »Amanda«, einem der berühmtesten Lieder Victor Jaras.
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»Eine Nacht im September bebte die Erde. Die Leute wurden unruhig, einige wollten weglaufen, aber das ging nicht. Die Ausgänge waren verschlossen. Es waren auch Soldaten mit uns unter der Tribüne, sehr junge Soldaten, die nicht aus Santiago stammten – um zu vermeiden, dass sich Freunde oder Verwandte begegnen. Sie holten Jungs aus anderen Regionen, und die aus der Hauptstadt schickten sie nach Norden oder Süden. Die Leute hatten Angst, wollten weglaufen, und die Soldaten mit dem Gewehr in der Hand riefen: Bitte, setz dich hin, bleib sitzen, oder ich muss schießen. Sie weinten. Aber sie ließen niemanden raus.«
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Auf der Tribüne riecht es nach Marihuana, Rauch liegt wie Dampf über den Köpfen, auf der Bühne spielen Los Jaiva, das Publikum klatscht die Doppelschläge einer Cueca. Im März 2000 blickt Allende von roten Fahnen, Che Guevara von den Rücken junger Konzertbesucher, Transparente tragen Cannabisblätter, andere die Frage: Wo sind sie? Angehörige der Verschwunden stehen im Scheinwerferlicht und rufen auf zum Pakt der Gerechtigkeit. Vom Rasen rufen sie: El pueblo unido jamás será vencido. Unter der Tribüne, neben den Umkleidekabinen, gibt es Brötchen mit gekochtem Schinken. Und es gibt zu viel Leben, um ans Sterben zu denken.
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»Vom Flughafen starteten die Flugzeuge nach Süden und Norden in die anderen Lager. Manche flogen über das Meer. Dort warfen sie Gefangene ab, die sie vorher betäubt hatten. Über dem Meer und der Andenkordillere. Auch ich sollte abtransportiert werden. Wir standen in der Schlange zu den Autobussen.
Auf einmal tauchte mein Bruder mit zwei Soldaten auf. Sie brachten mich zu einem kleinen Bus, drinnen lauter Militärs. Er sagte: Meine Herren, ich stelle Ihnen meinen Bruder vor, er arbeitet für mich und wird uns später fahren. – Schön, Sie kennenzulernen, sagten sie.
Mein Bruder hatte nicht um Erlaubnis gebeten. Er riskierte es einfach.
Ich sitze also im Bus, als ein Offizier auftaucht. Wer bist du? Und ich: Der Mitarbeiter meines Bruders. Ich fahre diesen Bus. Das glaub ich nicht, sagt er, steig aus. Ich hatte schmutziges, wirres Haar, kaputte Hosen, kleine Wunden. Die Soldaten im Auto sagen: Nein, der arbeitet hier. – Unsinn! Er nimmt mich mit. Los, sagt er, wir gehen ins Velodrom.
In der Entfernung sehe ich meinen Bruder mit einem Offizier. Sie kommen näher. Wo bringen Sie diesen Mann hin? Das ist kein Gefangener, sagt er, das ist sein Bruder, er arbeitet für den Comandante.
Der ist kein Chauffeur. Das ist ein Gefangener, und ich nehm ihn mit.
Nein, sagt der andere. Sie holen einen dritten Offizier. Mein Bruder zischt mir zu: Reiß dich zusammen, bald ist es vorbei. Der dritte Offizier geht mit meinem Bruder in einen Raum und sagt: Lasst niemanden rein.
Ich glaube, er hat sich für mich eingesetzt. Ohne mich zu kennen.
Meine Freunde beobachteten das alles. Ich sah die Erleichterung in ihren Gesichtern. Sie dachten: Wenn du raus kommst, erfährt meine Familie, wo ich bin.
Wir haben etwas erreicht, sagt mein Bruder, als er rauskommt. Aber du bist noch nicht draußen.
Der Offizier tritt auf die Straße und weist die Karavane an loszufahren. 20 Busse mit Gefangenen, vor ihnen vier Fahrzeuge mit Maschinengewehren, hinter ihnen Militärs und unser Bus.
Mein Bruder gibt mir die Schlüssel. Du fährst, sagt er. Aber ich kann nicht fahren. Ich habe keinen Führerschein. Alle warten darauf, dass ich losfahre. Ich weiß nicht wie, aber manchmal kann man mit einem Blick alles sagen. Ach was, sagt mein Bruder, ich fahre und du löst mich später ab. Setz dich auf den Beifahrersitz. Und wir fuhren los.
Als wir am Haus meines Schwagers vorbeikommen, sagt mein Bruder, mi Capitán, mein Bruder will zu Hause etwas essen. Wir können ihn später abholen. Kein Problem, erwidert der Capitán. Bevor ich aussteige, gibt er mir seine Zigaretten. Marlboro. Es waren diese Päckchen mit zehn Zigaretten. Ein Soldat schenkt mir eine Dose Huhn mit Reis. Nordamerikanische Sachen.
Meine Mutter und meine Frau glaubten, ich sei tot. Was für eine Tragödie. Ich rief meine Frau an.
Wer ist da?
Carlos.
Welcher Carlos?
Sie dachte, jemand würde sie anlügen.
Das sind Erfahrungen, die nie mehr… Ich habe großes Glück gehabt.«
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Im Juli 1974 druckte Carlos Flugblätter, um an den Jahrestag der Kupferverstaatlichung zu erinnern. Nach dem Putsch wurde er dreimal verhaftet und gefoltert. »Ich bereue nichts«, sagt Carlos. »Ein Mensch, der keine Ideale hat, ist kein Mensch.« In der Familie meiden sie das Thema. Carlos ist 55 Jahre alt und arbeitet als Lehrer in Santiago de Chile.
Als Kandidat der Linkskoalition Unidad Popular gewann Salvador Allende 1970 die Wahlen in Chile und wurde mit einer Mehrheit von 36,3 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Geheimdienst-Dokumente, die die Vereinigten Staaten unlängst veröffentlicht haben, beweisen, dass der US-Geheimdienst CIA von Anfang an gegen die sozialistische Regierung Allendes arbeitete, etwa indem er Unternehmer, Christdemokraten und die reaktionäre Tageszeitung El Mercurio finanziell unterstützte. 1971 ließ Allende mit Zustimmung aller Kongressparteien Kupferminen und Banken des Landes verstaatlichen. Weil er sich weigerte, die nordamerikanischen Eigentümer zu entschädigen, stellte die US-Regierung bald alle Hilfs- und Kreditprogramme für Chile ein. Im Zuge der Bodenreform gingen große Ländereien in Staatsbesitz über. Erstmals protestierten die Frauen der Ober- und Mittelschicht mit einem »Marsch der leeren Töpfe« gegen Nahrungsmittelknappheit, als Fidel Castro 1971 zum Staatsbesuch nach Chile kam. Ein Jahr später traten die Fuhrunternehmer in Streik, um gegen die geplante Einführung eines staatlichen Transportsystems zu protestieren. Ihr Streik hatte für ein Land wie Chile, das aufgrund seiner Geografie auf den Straßentransport angewiesen ist, verheerende Folgen. Die Regierung verhängte den Ausnahmezustand. Ärzte und Kleinunternehmer schlossen sich dem Streik an. Bei den Parlamentswahlen im März 1973 baute die Regierung ihre Mehrheit dennoch auf 44 Prozent aus. Im Juli streikten die Fuhrunternehmer erneut.
General Augusto Pinochet galt Allende bis zum Tag des Putsches als treuer Truppenführer. Am Morgen des 11. September 1973 eroberte die Marineinfanterie den größten Hafen Chiles, Valparaíso, 120 Kilometer westlich von Santiago. Panzer rollten durch die Straßen der Hauptstadt. Das Militär besetzte Radiostationen und verhängte Ausgangssperren. In seiner letzten Rundfunkansprache forderte Allende seine Anhänger auf, keinen Widerstand zu leisten. Er verzichtete auf freies Geleit zum Flughafen und Exil. Das Militär hatte schon begonnen, den Regierungspalast »La Moneda« zu bombardieren, als Allende sich mit einer Pistole das Leben nahm. Nach Bekanntwerden seines Todes schoss an der Börse der Kupferkurs in die Höhe.
Die Militärregierung Pinochets verbot politische Parteien und Gewerkschaften, verhaftete und ermordete deren Führer oder trieb sie ins Exil. Während der Wochen nach dem Putsch nutzten die neuen Machthaber zwei Fußballarenen, das Estadio Nacional sowie das Estadio Chile, als Konzentrationslager. Das Nationalstadion ist nach wie vor die größte Sportarena der Hauptstadt. 1909 hatten Sportler den Bau gefordert. 1938 wurde das Stadion eröffnet.
Schon wenige Tage nach dem Putsch berichteten entlassene Häftlinge von nächtlichen Exekutionen und Folter im Estadio Nacional. Bilanz nach 17 Jahren Militärdiktatur: 3000 Tote und Verschwundene. Etwa eine Million Chilenen flohen ins Exil.
Die berüchtigte Geheimpolizei Dina und ihr Chef Manuel Contreras terrorisierten das Land unter der Diktatur mit Bespitzelungen, Folterverhören und Hinrichtungen. In ganz Chile richteten sie Konzentrationslager ein. Die Dina mordete auch im Ausland. 1976 fiel der ehemalige Außenminister Orlando Letelier in Washington D.C. einem Sprengstoffanschlag zum Opfer.
Anfang 1988 schlossen sich die oppositionellen Parteien zu einer »Nein«-Kampagne beim Plebiszit über die Fortsetzung der Regierung Pinochets zusammen. Am 5. Oktober stimmte eine Mehrheit von 54 Prozent gegen den Diktator. Der Christdemokrat Patricio Aylwin gewann im Dezember 1989 als Kandidat einer Koalition aus 17 Parteien die Präsidentschaftswahlen mit 55 Prozent.
Die Militärs ließen sich eine Generalamnestie zusichern, bevor sie die Macht abtraten. Im Juni 1990 wurde nahe der Stadt Pisagua das erste Massengrab mit Opfern der Diktatur entdeckt.
Die Angehörigen von mehr als 1200 Verschwundenen, die während der Diktatur verschleppt wurden, warten bis heute auf Informationen über den Verbleib ihrer Verwandten. Mitte vergangenen Jahres erklärten sich die Miltärs bereit, die Nachforschungen über das Schicksal der Verschwundenen zu unterstützen, wenn ihren Informanten Anonymität zugesichert werde. Von den dünnen Ergebnisse, die unlängst Präsident Ricardo Lagos überreicht wurden, sind viele Chilenen enttäuscht.
Im Oktober 1998 beantragte der spanische Richter Baltasar Garzón die Auslieferung des Ex-Diktators wegen der Ermordung spanischer Staatsangehöriger beim Putsch von 1973. Pinochet wurde darauf während eines London-Besuchs unter Hausarrest gestellt, bis Ärzte ihm im Februar 2000 wegen seines Gesundheitszustands Prozessunfähigkeit bescheinigten. Er kehrte im März nach Chile zurück.
Seine Immunität, die ihm als Senator auf Lebenszeit in Chile zugesichert war, wurde wegen seiner mutmaßlichen Beteiligung an Verbrechen der Militärdiktatur am 1. August aufgehoben. Zurzeit sind 200 Klagen gegen Augusto Pinochet anhängig.