Hätte diese Geschichte einen Helden, würde er schwarze Hosen tragen, ein ziemlich weißes Hemd, wahrscheinlich auch eine Weste. Er wäre zurückhaltend bei unserer ersten Begegnung, würde beim zweiten, dritten Besuch lächeln, falls er gerade in Richtung Tür sieht. Vielleicht würde man eines Tages von ihm erfahren, dass er Kinder hat, einen Sohn, der nach Europa gegangen ist, als die Krise anfing. Er würde länger an unserem Tisch stehen bleiben, als den Gästen lieb sein kann, die auf ihren Kaffee warten. Aber empören würde das niemanden. Nicht gleich. Nicht sehr.
Diese Geschichte darf keinen Helden haben. Einen einzelnen Menschen, einen einzelnen Ort herauszuheben wäre Verrat an der Sache. Ihr Protagonist ist ein Kollektiv, die Masse der argentinischen Kellner, die schwarz-weiß den Alltag in den Straßen der Hauptstadt beleben, die Menge der Kaffeehäuser von Buenos Aires, die ihre europäischen Vorbilder an Schönheit, stiller Eleganz und Stimmung überflügeln. An einigen Stellen wird es um einstürzende Stuckdecken gehen, um anarchistische Tellerwäscher, eine Tangotänzer-Revolte und immer wieder um Metallkännchen mit Leitungswasser und Tellerchen mit Keksen, ohne die dir hier kein Kaffee unter die Augen tritt. Wahrscheinlich wird es auf so was wie eine Liebeserklärung hinauslaufen. Aber wo soll man sonst hin mit der ganzen Euphorie, wenn man über die schönste Stadt des südamerikanischen Kontinents spricht.
Vielleicht sollten wir eine in diesem Zusammenhang wichtige Kategorie gleich zu Anfang hinter uns bringen: Melancholie. In seinem fantastischen Roman Über Helden und Gräber schreibt der argentinische Autor Ernesto Sábato: „Ein ganz feiner Regen fiel, gepeitscht von jenem Südostwind, der dem Porteño die Einsamkeit und Traurigkeit noch fühlbarer macht, wenn er durch die angelaufene Fensterscheibe eines Cafés auf die Straße blickt und murmelt: ›Was für ein Wetter, Carajo, was für ein Schweinewetter‹, während einer, der tiefer veranlagt ist, denkt: welch unendliche Traurigkeit.“ Nun regnet es nicht immer in Buenos Aires. Aber eine Ahnung dieser warmen Tristesse, die sich im Innern ausbreitet wie ein großer Schluck Cognac, ein Rest davon bleibt.
Es heißt, die Cafés und Confiterías seien die ausgelagerten Wohnzimmer der Porteños, der Einwohner der Hauptstadt. Und bei Gott oder einer anderen überirdischen Macht: Es gibt kein Lokal in dieser Stadt, in dem nicht irgendwer in irgendeiner Ecke an einem noch so wackeligen Tisch sitzt und Kaffee trinkt, selbst wenn der so dünn an den Tassenrand schwappt, dass sie ihn jugo de paraguas, Regenschirmsaft, nennen. Wo das erste Café entstanden ist, ist umstritten. Der Kaffeehaus-Historiker Jorge Bossio nennt das Jahr 1764 als Geburtsstunde. Unter der Bezeichnung „Café“ laufen in Buenos Aires auch viele Lokale, die eher einem Restaurant ähneln, was mit der normalerweise überall sehr ordentlichen Qualität des Getränks zu tun haben mag. Die meisten haben wenig Stil, viele stammen aus den Jahren der Menem-Regierung (den Namen auszusprechen bringt übrigens Unglück, das – so will es die argentinische Legende – abgewendet werden kann, indem sich Frauen an die Brust und Männer an den Hoden greifen, wer das nicht glaubt, kann an einer bevölkerten U-Bahn-Station einfach mal laut und deutlich „Menem“ sagen und wird sehen, was er davon hat), italienische Restaurants, von denen es lange hieß, sie würden vor allem zur Geldwäsche benutzt. Geld ist zwar schon lange keins mehr da, erst recht nicht zum Waschen. Aber die Gäste bleiben.
Man sagt, die unfassbare Anhäufung von Cafés sei auf eine Tradition zurückzuführen, die mit den Einwanderern aus Europa an den Rio de la Plata kam. Heimwehkranke, die nach Ansprache suchten, Landsleute, die nicht allein den Kaffeesatz in der Tasse aufwühlen und traurig in die schwarze Flüssigkeit starren wollten.
Früher waren die Cafés Männern vorbehalten. Später zog der Tango von den Bordellen am Hafen in die Kaffeehäuser, eine Symbiose, von der Texte wie der des berühmten Tango Cafetín de Buenos Aires von Enrique Santos Discepolo künden, der „die wundersame Mischung aus Weinweisen und Selbstmördern“ beschreibt, die das argentinische Kaffeehaus beherbergt: „Als Kind schaute ich von draußen zu Dir rein, wie auf die Dinge, die unerreichbar sind. Die Nase plattgedrückt am Fenster, am Blau der Kälte, die mir erst nach vielen Jahren wie meine eigene erschien. Wie eine Schule des Lebens gabst Du mir schon als staunendem jungen Mann die Zigarette, das Vertrauen in meine Träume und eine Hoffnung auf Liebe.“ Zugegeben: Der Titel gehört zu den kitschigsten, aber auch schönsten Tangos, die dir fern von Buenos Aires Tränen in die Augen treiben, eigentlich vor allem dort.
Mit dem Tango zogen in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch die Stammtische der Intellektuellen in den Kaffeehäusern ein. Die beiden großen Zirkel der argentinischen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Florida und Boedo, mit ihren im Ausland bekanntesten Hauptvertretern Jorge Luis Borges und Roberto Arlt bevölkerten die Lokale der Straßen und Viertel, die ihnen den Namen gaben. Das Kaffeehaus war ein Ort, wo Intellektuelle auch später noch „mit Leidenschaft diskutierten, welche von dieser Art eines diplomatischen Privilegs, eines intellektuellen und moralischen Freibriefs entfesselt wird, die in der Atmosphäre der Cafés herrscht“, wie der Belgoargentinier Julio Cortázar in seinem ebenso fantastischen Roman 62/Modellbaukasten schrieb. Und er hat Recht. Obwohl er die wenigste Zeit seines Lebens in Argentinien verbracht hat.
Eines seiner frühen Werke, Die Gewinner, hat er im eher sachlichen London City verfasst, einem geschäftigen Lokal an der Avenida de Mayo mit wenig Glamour, in dem um die Mittagszeit Handys klingeln und die Fernsehnachrichten tonlos über Bildschirme laufen. Im hinteren Teil, am Fenster zur Straße, ist ein Tisch mit roter Museumskordel abgetrennt. Zwei Stühle stehen daran, erhabener als der Rest, mit roten Sitzbezügen, während die anderen honigfarben ihr abgestoßenes Dasein fristen. Im dreieckigen weißen Quilmes-Aschenbecher liegt eine Zigarette der Marke Jockey Suaves in der Mulde, die Cortázar eher nicht geraucht haben dürfte, daneben ein schwarzes Notizbuch mit liniertem Papier, ein Kugelschreiber. Obwohl der Kellner, der kein Held ist, sagt, dass niemand weiß, an welchem Tisch er seinen Roman verfasst hat, der mit dem Satz endet: „Fahren wir zum ›London‹, Ecke Perú und Avenida.“
Die Avenida de Mayo, die mit den Avenidas Roque Sáenz Peña und Julio A. Roca sternförmig auf den Regierungspalast, die Casa Rosada, zuführt, ist nicht erst seit der Wirtschaftskrise der Laufsteg des Protests. Wer im London City von seiner Zeitung aufblickt, weil auf einmal der Verkehr vor dem Fenster aussetzt, wird wenige Minuten später die Trommeln hören, die den nächsten Protestzug anführen. Die Demonstranten, Sparer, Arbeitslose, städtische Angestellte, werfen Flugblätter in die Luft, die sich auf der Straße ins Laub der Platanen mischen. Der nächste Protestzug wird über sie hinweggehen.
Das London City ist schon deshalb kaum zu verfehlen, weil es nur wenige Blocks von dem Café entfernt liegt, in dem so gut wie jeder einen Kaffee getrunken hat, der jemals einen Fuß nach Buenos Aires gesetzt hat. Das Gran Café Tortoni ist so berühmt, dass sich die Kellner einen ähnlich unfreundlichen Ton erlauben können wie die Kellner in den Apfelweinkneipen in Frankfurt-Sachsenhausen (obwohl sich in diesem Punkt die Gemeinsamkeiten erschöpfen, versprochen). 1858 von einem Franzosen gegründet, avancierte es in den zwanziger Jahren zum Treffpunkt des Künstlerzirkels La Peña, der im Keller zusammenfand, wo heute eine Radiostation sendet. Im ersten Stock hat die Academia Nacional de Tango ihren Sitz. Es gibt Tassen zu kaufen, Aschenbecher und Teekännchen, und die Speisekarten sind zu groß, als dass man sie einfach in die Jackentasche stecken könnte.
Die Avenida de Mayo, Verbindungsstraße zwischen Plaza de Mayo und Avenida 9 de Julio, entstand 1884 nach dem Vorbild des Haussmannschen Paris. Und es ist in etwa diese Epoche, in die man einzutreten glaubt, wenn sich die bronzegefassten Schwingtüren unter der gläsernen Markise öffnen und man einen Saal betritt, in den aus bemalten Oberlichtern schwaches Licht fällt, eine Welt aus dunklem Holz, Spiegeln und weichem Stoff, Schachtischen und Schwarzweißporträts, einen Ort, an dem man glaubt, in seinem Notizbuch augenblicklich die ersten Sätze eines opulenten Romans niederschreiben zu müssen. Wem das nicht gelingt, dem bleibt immer noch der Tango. Seit die Krise das Land schüttelt, kommen hierher hauptsächlich Touristen. Einheimische können sich den Besuch des Cafés kaum noch leisten, das nach 13 Uhr und an Wochenenden für Kaffee und Tee einen Aufschlag verlangt.
Ein früherer Nachbar des Tortoni, das Café Colón, steht nicht mehr. Von ihm wird die sympathische Geschichte erzählt, dass Besitzer, Kellner und Tellerwäscher Anarchisten waren. Der Eigentümer lehnte Alkohol ab und nahm sich deshalb vor, stattdessen den besten Kaffee von Buenos Aires zu servieren. Einem Besucher, dem Gründer der Zeitung La Protesta, wurde eines Tages das gesamte Geld für den Druck der nächsten Ausgabe der Zeitung geklaut. Die Kellner legten ihr Trinkgeld zusammen, um das Erscheinen zu sichern. Jetzt haben es doch noch ein paar Helden in die Geschichte geschafft.
Ein anderer berühmter Toter ist das Molino, früher gegenüber dem Kongress gelegen, heute eine Ruine. Nach dem Putsch 1976, als die Militärs den Kongress schlossen, sollte der Laden abgerissen werden. Eine eilig gegründete Gesellschaft verhinderte das Schlimmste, konnte den Niedergang des Etablissements aber nicht dauerhaft verhindern. Wahrscheinlich ist einem Land, in dem Menschen vor wenigen Jahren sterbende Kühe von der Ladefläche eines verunglückten Lastwagens zerrten, um sich das Fleisch zu sichern, kein Vorwurf zu machen, wenn es den Erhalt von Kulturgütern nicht an erste Stelle setzt. Immerhin hat das Kulturdezernat der Stadt unlängst die Comisión de Protección y Promoción de los Cafés, Bares, Billares y Confiterías Notables de la Ciudad de Buenos Aires gegründet, aber die Liste ihrer Errungenschaften ist längst nicht so lang wie ihr Name.
Zu den Kleinoden, die pittoresk vor sich hin gammeln, zählt die Confitería Ideal in der Calle Suipacha 384. Im ersten Stock, wo Szenen der Evita- Verfilmung mit Madonna gedreht worden sind, kommen am Abend nach dem Tanzkurs drei Tangos auf einen Disco-Reißer. Dass das Gebäude unter Denkmalschutz steht, stört weder Eigentümer noch Stadtverwaltung. Es bröseln und platzen Anstriche und Putz von Decke und Wänden. Vor ein paar Wochen soll eine der Lampen mit ein paar Brocken Stuck runtergekommen sein, von einer immerhin knapp sechs Meter hohen Decke. Die Tänzer ziehen unbeirrt ihre Kreise. An den Säulen halten Metallspangen gelbes Licht in Globen. Die Wände sind im unteren Drittel mit dunklem Holz getäfelt, dazwischen große Spiegel, die den Tanz auf der Fläche wiederholen. Eine junge Frau in Netzstrümpfen erzählt von einem Protesttanz der Milongueros, die das berühmte Angelitas vorm Abriss bewahren wollten. Genutzt hat es nichts. Das Lokal wurde geschlossen.
Im Untergeschoss der Confitería Ideal spielt am Nachmittag ein älterer Herr auf der Heimorgel, ungeachtet der Gästezahl, die sich meistens in Grenzen hält. Eine Ecke der Saaldecke hat jemand vor Jahren weiß gestrichen und danach offenbar die Lust verloren. Die Confitería Ideal gehört zu den schönsten Cafés der Stadt, nicht zuletzt, weil sein abgerockter Zustand ein Gefühl von Überfluss verbreitet, nicht dieses krampfhafte Zurschaustellen jedes historischen Zipfels. Es gammelt einfach vor sich hin, schön und lässig vernachlässigt.
Das argentinische Kaffeehaus ist groß und klein, luxuriös und runtergekommen, stark frequentiert und im Stich gelassen. Es ist ein Ort der Geselligkeit und des Alleinseins, ein Ort der konzentrierten Stille und des Disputs. Wer allein kommt, sitzt in der Chocolatería La Giralda meistens mit dem Gesicht zur Tür, was dem Eintretenden das Gefühl verleiht, er platze von der falschen Seite in eine Vorlesung. Der beste Tisch steht links am Fenster zur Avenida Corrientes – wobei man Straßenlärm und Abgase mögen muss, um ihn zu lieben, am Nachmittag, wenn das holzgerahmte Fenster hochgeschoben ist. Auf der Avenida Corrientes, die hauptsächlich aus Buch- und Plattenläden, modernen Antiquariaten, Theatern und eben Cafés besteht, kann man Wochen damit zubringen, zwischen Läden und Cafés zu wechseln, die neu gekaufte Lektüre bei einer Tasse Kaffee auszuprobieren, bis mitten in die Nacht. Wer zum ersten Mal kommt, muss nur die Straße runterschauen, um beim Anblick des Obelisken drei Wünsche loswerden zu dürfen.
Die Spezialität bei La Giralda ist die chocolate con churros. Die genau richtig gesüßte Schokolade kommt in einem fingerhohen Blechkännchen mit Schaumkrone und reicht für eineinhalb Tassen. Die Churros, ein fettiges Spritzgebäck aus Spanien, könnten achtzackige Sterne ergeben, würde man sie in Scheiben schneiden, aber dafür müssten sie kalt sein, und dann schmecken sie ranzig. Die weiß gekachelten Wände im Neonlicht bieten keine wirklich heimelige Atmosphäre, und die Ventilatoren an der Wand können nichts ausrichten gegen den Rauch der Zigaretten, aber man muss es trotzdem lieben. Vielleicht nicht in erster Linie, aber auch wegen der Serviettenspender, die wachsiges Papier geben, das nie dafür gedacht gewesen sein kann, sich den Mund abzuwischen. Raum für Notizen. Was für eine Stadt.
Natürlich gibt es in Buenos Aires auch moderne Cafés, Szenekneipen, vor allem im Stadtteil Palermo, wo mit coolem Holz, Chrom und Glas eine zeitgemäße Atmosphäre hergestellt wird. Das Problem mit der zeitgemäßen Atmosphäre ist bloß, dass sie überall zu haben ist, in Oslo, Tokyo und eben auch in Buenos Aires. Sie lohnt keine Reise.
Das Café Las Violetas schon. Es ist die volle Packung Jugendstil, die an der Ecke Medrano und Rivadavia, abseits des Zentrums, hinter Glas liegt, gewölbtem Glas, das von einem dermaßen anachronistischen Luxus kündet, dass man nicht mal wüsste, wo man sich nach dem Preis für die Sonderanfertigung erkundigen sollte. Im hinteren Teil fällt schwaches Licht durch Fenster, die von einem Künstler bemalt worden sind, der nicht in die Geschichte eingegangen ist. Schön sind sie trotzdem. Grünpflanzen wachsen von Marmorsäulen, werfen ihr Abbild von den Spiegeln an den Wänden, in der Reflexion von drei Meter hohen Fenstern, an denen der Verkehr einer wirbeligen Hauptstraße und der einer baumbestandenen Nebenstraße vorbeiführt. Die kleinen Croissants, die in Argentinien Medialuna, Halbmond, heißen, machen noch aus jeder Rechnung, die unter einer Ladung Keksen auf dem Tisch landet, ein Poem.
Du wirst an diesen Orten Kaffee trinken und aus dem Fenster sehen, vor dem der Verkehr laut und hektisch die Straßen rauf- und runterrollt. Du wirst dir wünschen, eines dieser Cafés zu deinem Stammlokal machen zu können. Dann wirst du seufzen und dich wie ein schlechter Tango fühlen. Du bist verloren. Verliebt sowieso. Es geht gar nicht anders.
im Oktober 2005 erschienen in DIE ZEIT