Liebe Karin,
immerhin hat es gut angefangen. Ich hatte fest vor, heute den Text über Willy Brandt zu schreiben, und zwar möglichst ganz. Du ahnst es: Daraus ist nichts geworden.
Der Text soll in der Serie zum 75. Geburtstag der Frankfurter Rundschau erscheinen. Da wird jeden Tag ein Mensch vorgestellt, der für eines der 75 Jahre steht und etwas Mutiges getan hat. Bei Willy Brandt ist es das Jahr 1969, in dem er zum ersten SPD-Kanzler der Bundesrepublik gewählt wurde. Und mutig war es allemal, wie er gegen großes Geschrei der Antikommunisten seine Entspannungspolitik gegenüber den kommunistischen Diktaturen im Osten Europas durchgesetzt hat (DDR inklusive).
Dummerweise ist mir, kaum hatte ich angefangen, ein eigenes Erlebnis eingefallen: Ich habe ihn erlebt, den Brandt, am 12. November 1972 (das habe ich nachgeschaut, zugegeben) in der Frankfurter Festhalle bei einer Kundgebung zur nächsten Bundestagswahl. (Ohne den Leuten zu viel zu verraten: Du kannst leicht ausrechnen, wie alt Du an diesem Tag warst.)
Ich jedenfalls war 16 und komplett begeistert. Zwar hat sich das Bild der schönen Jungsozialistin G., die mich mitgenommen hatte, nachhaltig vor Brandts Rede geschoben. Aber das Gefühl, dass da einer mit tiefer Überzeugung und gegen heftigen Widerstand für eine wirklich neue Politik gestritten hat, das ist geblieben. Auch wenn ich der SPD nie wieder so nah gekommen bin…
Ich bin heute derart in meinen Erinnerungen hängengeblieben, dass ich nichts anderes mehr zustande gebracht habe, als in Brandts Biografie herumzugoogeln. Mir ging immer wieder durch den Kopf, wie ich die Debatte über das Misstrauensvotum verfolgt habe, mit dem die CDU Brandt stürzen wollte, das war auch 1972. Ich meine: Pubertierende Jungs (ich war ja nicht der einzige!) sitzen zitternd vor dem Radio und drücken einem SPD-Politiker die Daumen, ist das nicht unglaublich?
Mir fällt das alles nicht nur ein, wenn ich gerade über Willy Brandt schreibe. Ich muss oft daran denken, wenn mir Leute erzählen, sie interessierten sich nicht für Politik. Ich habe damals gelernt, dass Politiker die Welt sogar besser machen können. Soll das etwa nicht mehr stimmen, „nur“ weil es im Moment fast keiner tut?
War trotzdem ein schöner Tag, ich komme mir vor, als wäre ich kurz verreist gewesen. Und der „Willy“ bekommt halt von mir eine Sonderschicht am Wochenende.
Denkt an was Schönes und passt auf den Sonnenschirm auf!
Dein Stephan
Published by