tag 16

Liebe Karin,

so eine Urlaubswoche zu Hause kann schon auch etwas Wunderbares sein. Kein Laptop auf dem Balkontisch, stattdessen stapele ich – wie Du siehst – meine Lieblings-Espressotassen wie „vorgeschrieben“ zum Kaktus und träume von meinen früheren Reisen nach Mexiko. Lange her, damals ging es dort nicht ganz friedlich, aber doch viel friedlicher zu als heute. Die Tassen hat mir die liebe Gattin zum Geburtstag geschenkt, sie stammen aus Barcelona. Auch so ein Ort, den wir eigentlich sehr lieben.

Stattdessen heute: Hannover. Beziehungsweise Umland Hannover, wir fahren gleich los. Da lebt jetzt einer unserer allerbesten Freunde. Ein Mann, den ich mehr bewundere als viele prominente „Lichtgestalten“.

Warum? Weil er einem gar nicht einfachen Leben immer noch Freude und Genuss abringt. 

Er (Namen lasse ich hier ganz weg) hatte sich aus sehr schwierigen Verhältnissen in spannende und gut dotierte Jobs hochgearbeitet – schon das ist für einen wie mich, der sehr gute Voraussetzungen mitbekommen hat, absolut bewundernswert. Dann kamen Rückschläge: ein Arbeitgeber, dem die klare Haltung meines Freundes nicht passte, ein Auftraggeber, der es mit Loyaliität nicht so sehr hatte. Es folgte die Erfüllung eines Traums: ein kleines, eigenes Geschäft. Und dann die Krankheit.

Eine nicht akut lebensgefährliche, aber tückische Krankheit, die aber mit dem eigenen Laden nicht zu vereinbaren war. Zum Glück hat er wenigstens jetzt eine Behandlung, die ihn zuemlich normal leben lässt.

Na ja: Das Geld ist weitgehend weg, der Mann muss von einem Minimum leben, er gehört längst zum Thema „Armut in Deutschland“. Und was tut er? Verdient, so gut es geht, ein bisschen was dazu, lebt sparsam, aber so gut wie möglich genussvoll mit seiner Liebsten und unterhält uns, wann immer wir ihn sehen, mit seiner liebenswürdigen Art und seinem wachen, klugen Geist.

Versteh mich nicht falsch: Immer wenn ich solche Geschichten höre oder erzähle, droht es wie das FDP-Gelaber vom „Jeder ist seines Glückes Schmied“ zu klingen. Oh nein, mein Freund hätte Zeit seines Lebens einen besseren Sozialstaat gebraucht, von der schwierigen Kindheit bis zu seinem fast lebensgefährlichen Ärger mit gewissen Institutionen nach der Erkrankung. Dass es Menschen gibt, die aus ungerechten Bedingungen noch so viel machen, heißt ja nicht, dass die Bedingungen nicht ungerecht sind. 

Mein Freund ist ein Kämpfer, und das Leben so gut es geht zu genießen, steht bei ihm dazu in überhaupt keinem Widerspruch. Im Gegenteil!

Mir macht das Mut, es spornt mich an: zum Kämpfen und zum Genießen.

Genießt die Tage!

Besitos, Dein Stephan

tag 15

lieber stephan, 

ich bin daran gewöhnt, im sommer in griechenland einen schlimmen katzencrush zu entwickeln. ich liebe katzen! dass bei uns in frankfurt keine wohnt, liegt an der allergie meines mannes und daran, dass sie im vierten stock, innenstadt, sehr auf uns angewiesen wäre. dabei sind wir gar nicht so interessant. 

in diesem jahr hab ich mich zum ersten mal in einen hund verknallt. ich kann das erklären. 

als wir neulich ins dorf herunterliefen, kamen wir an einem olivenhain vorbei. von dort aus näherten sich ein halbes dutzend bellender hunde, von hinten schloss ein jogger zu uns auf. er sagte, er laufe diese strecke schon seit 20 jahren. aber die hunde, die seien dieses jahr zum ersten mal auf diesem hügel. „die halter haben sie ausgesetzt“, sagte er, „wegen covid“. dann verabschiedete er sich und lief weiter. 

seit ein paar tagen taucht nun am späten abend regelmäßig ein kleiner hund bei uns auf der terrasse auf. er ist schwarz-weiß gefleckt, sieht aus wie ein muppet, null street smart, und ich muss gestehen, dass ich ihn am anfang nicht wirklich hier haben wollte. das liegt vor allem daran, dass er sich lange und ausgiebig juckt und ab und zu in einer kratzorgie sein hinterteil auf den vorderpfoten über die terrasse zieht. wenn er fertig ist, steht er wieder da, sieht mich erwartungsvoll an mit seinem lustigen gesicht und wedelt mit dem schwanz, in dem er sich manchmal verbeißt, so schlimm ist das offenbar mit den flöhen. aber auch das ist nicht der grund.

vorgestern abend hab ich ihm eine scheibe schinken auf die stufen geworfen. er hat sie nicht angerührt, was mich wunderte, weil er so offensichtlich hungrig war. ich habe dann die scheibe genommen, kleine stückchen abgetrennt, ihm jedes einzeln zugeschnickst und er hat sie restlos weggeschlabbert. thilo glaubt, dass ihm die gesellschaft fehlt, die interaktion, dass er da, wo er mal gewohnt hat, all das hatte. dafür spricht, dass er abends gern auf unserer terrasse abhängt, in der ecke, während wir hier sitzen, reden, wein trinken, manchmal ganze playlisten wegsingen, und der hund liegt in der ecke, in frieden. ich hab fast das gefühl, dass er sich ein bisschen weniger juckt als sonst, wenn er eine weile hier ist, aber wahrscheinlich ist das einbildung. 

heute hab ich ihm hundefutter gekauft, was anständiges. gerade war er hier. er hat die schale leer gemacht, den stick für die zahnpflege verschmäht, die ich muttiesk für ihn vorgesehen hatte (es gibt leider keine sticks gegen flöhe, ich hab das gegoogelt), und ist dann, nachdem er satt war, einfach weitergezogen. wie eine anständige katze, nur ohne streicheln. aber das geht halt leider nicht. und es liegt nicht mal an corona. 

besitos

* karin

 

ps: er ist wieder da und liegt in seiner ecke auf der terrasse, ist eben doch ein hund

tag 14

Liebe Karin,

den Glückwunsch für den lieben Thilo haben wir ja auf anderem Weg übermittelt, aber ich schließe mich der Botschaft Deiner Kerzen von Herzen noch mal an.

Besonders beeindruckt war ich von der Tisch-Erweiterung per Brett, und das trifft sich hervorragend, denn ich kann mit dem Erfindungsreichtum meiner lieben Gattin kontern. Du ahnst gar nicht, wie schlecht das Angebot einschlägiger Baumärkte an platzsparenden Sonnenschirm-Ständern ist! Die Lösung: Wir haben einen alten, kleinen Weihnachtsbaumständer zur Saisonware gemacht: Sommers Sonnenschirm halten und winters das Bäumchen, falls wir eins wollen…

A propos Weihnachten: Was mir dabei leider im Ernst einfällt (beziehungsweise sowieso durch den Kopf geht), ist die Furcht vor dem Corona-Winter. Wir haben ja jetzt auch eine Woche Urlaub, die wir zwar weitgehend zu Hause verbringen (ich freue mich sehr drauf!), aber auch für zwei Kurzreisen nutzen wollen: einmal zu meiner lieben Schwiegermutter und einmal zu Freunden.

Wir haben ungefähr zwei Stunden lang etwa ein Dutzend Wetter-Apps befragt, bis wir halbwegs sicher waren, an welchem Abend wir draußen sitzen können. Und wir haben uns für das Autofahren entschieden, obwohl wir Zug viel schöner und vernünftiger finden – die Waggons sind schon wieder ziemlich voll, und was man von der „Vernunft“ vieler Menschen hört, macht keinen Mut, sich in die relative Enge zu begeben. 

Ich bin ja wirklich niemand, der für blinden Gehorsam plädiert. Aber ich verstehe einfach nicht diese Leute, die, statt einfach den Weg der Vorsicht zu gehen, ihre Lust am „Widerstand“ ausgerechnet jetzt entdecken, nur weil es mal persönlich unangenehm wird. Als gäbe es nicht tausende andere Gründe, das Maul aufzureißen, auch ohne Corona!

Aber ich war beim Winter: Was soll das werden, wenn es wieder kälter ist? Schießen dann die Heizpilze wie Heizpilze aus dem Boden? Oder sitzen wir wieder isoliert zu Hause? Ich habe ein bisschen ein schlechtes Gewissen, das jetzt so vor Dir auszubreiten, ich will Dir nicht den Urlaub verderben. Ihr wollt und sollt ja Kraft tanken für das, was kommt, und nicht Angst. Aber das tut ihr sicher, auch wenn die Gedanken nicht immer die fröhlichsten sind.

Den Text zu Willy Brandt, bei dem ich vorgestern hängengeblieben war, habe ich jetzt auch schon fertig. Und der Blick auf die freie Woche tut verdammt gut. Ich werde es genießen, und das wünsche ich euch auch!

Besitos, Dein Stephan

tag 13

lieber stephan, 

seit einiger zeit stoße ich im internet immer wieder auf werbung für eine app, mit deren hilfe man störende elemente aus fotos retouchieren kann. veranschaulicht wird das ganze am beispiel von menschen. eben noch war der strand im hintergrund voller urlauber, ein bisschen displaywischen und schon sieht es aus, als habe man die bucht gerade als erster entdeckt. 

einen attraktiven ort für sich allein zu haben gilt als jackpot in zeiten von overtourism. ich habe mal eine reisegeschichte über eine führung durchs vatikanmuseum gemacht, die knapp 300 euro kostete. dafür durfte man das gebäude nach torschluss betreten und war in der sixtinischen kapelle so gut wie allein.

ich weiß nicht, was auf dem pilion normalerweise los ist, wir sind ja zum ersten mal hier. der august jedenfalls ist in griechenland hauptferienzeit, und der 15. august, maria himmelfahrt, markiert ihren höhepunkt. familien kommen zusammen, feiern, essen, tanzen, und obwohl in diesem jahr große feste untersagt worden sind, hat man in den vergangenen tagen doch gemerkt, dass es voller geworden ist. ich sah männer erhebliche teile von kühen und schweinen in plastiktüten aus der metzgerei tragen, frauen verließen den supermarkt mit gesichtsausdrücken, die ich nur von verkaufsoffenen sonntagen vor weihnachten kenne. es muss schwierig sein, das fest in diesem jahr gelassen zu begehen, mit all den einschränkungen und auflagen. 

thilo und ich haben deshalb beschlossen, das wochenende über an unserem haus zu bleiben. wir retouchieren uns quasi aus dem bild, auch aus respekt, um wenigstens zwei plätze in der taverne frei für familien zu machen, die sich seit monaten nicht gesehen haben. happy panagia! stattdessen haben wir unsere stühle am meer aufgeschlagen und gepicknickt. für mich ist das größte am 15. august nämlich, dass thilo geburtstag hat. es gab tortilla mit kerzen und wir hatten den sonnenuntergang für uns allein. 

besitos

* karin

tag 12

Liebe Karin,

immerhin hat es gut angefangen. Ich hatte fest vor, heute den Text über Willy Brandt zu schreiben, und zwar möglichst ganz. Du ahnst es: Daraus ist nichts geworden.

Der Text soll in der Serie zum 75. Geburtstag der Frankfurter Rundschau erscheinen. Da wird jeden Tag ein Mensch vorgestellt, der für eines der 75 Jahre steht und etwas Mutiges getan hat. Bei Willy Brandt ist es das Jahr 1969, in dem er zum ersten SPD-Kanzler der Bundesrepublik gewählt wurde. Und mutig war es allemal, wie er gegen großes Geschrei der Antikommunisten seine Entspannungspolitik gegenüber den kommunistischen Diktaturen im Osten Europas durchgesetzt hat (DDR inklusive).

Dummerweise ist mir, kaum hatte ich angefangen, ein eigenes Erlebnis eingefallen: Ich habe ihn erlebt, den Brandt, am 12. November 1972 (das habe ich nachgeschaut, zugegeben) in der Frankfurter Festhalle bei einer Kundgebung zur nächsten Bundestagswahl. (Ohne den Leuten zu viel zu verraten: Du kannst leicht ausrechnen, wie alt Du an diesem Tag warst.)

Ich jedenfalls war 16 und komplett begeistert. Zwar hat sich das Bild der schönen Jungsozialistin G., die mich mitgenommen hatte, nachhaltig vor Brandts Rede geschoben. Aber das Gefühl, dass da einer mit tiefer Überzeugung und gegen heftigen Widerstand für eine wirklich neue Politik gestritten hat, das ist geblieben. Auch wenn ich der SPD nie wieder so nah gekommen bin…

Ich bin heute derart in meinen Erinnerungen hängengeblieben, dass ich nichts anderes mehr zustande gebracht habe, als in Brandts Biografie herumzugoogeln. Mir ging immer wieder durch den Kopf, wie ich die Debatte über das Misstrauensvotum verfolgt habe, mit dem die CDU Brandt stürzen wollte, das war auch 1972. Ich meine: Pubertierende Jungs (ich war ja nicht der einzige!) sitzen zitternd vor dem Radio und drücken einem SPD-Politiker die Daumen, ist das nicht unglaublich? 

Mir fällt das alles nicht nur ein, wenn ich gerade über Willy Brandt schreibe. Ich muss oft daran denken, wenn mir Leute erzählen, sie interessierten sich nicht für Politik. Ich habe damals gelernt, dass Politiker die Welt sogar besser machen können. Soll das etwa nicht mehr stimmen, „nur“ weil es im Moment fast keiner tut?

War trotzdem ein schöner Tag, ich komme mir vor, als wäre ich kurz verreist gewesen. Und der „Willy“ bekommt halt von mir eine Sonderschicht am Wochenende.

Denkt an was Schönes und passt auf den Sonnenschirm auf!

Dein Stephan