Liebe Karin,
wir hatten es ja schon ein paar Mal mit den Kontrasten, und ich fühle das heute mal wieder besonders stark. Ein sonniger Samstag, die Schwüle ist einer milden Brise gewichen, gerade eben hat sich eine Biene in unsere Balkonblumen versenkt. Und ein paar Kilometer von hier, in Hanau, regiert die Trauer.
Ein halbes Jahr ist es jetzt her, seit am 19. Februar ein Mann (nicht ohne ein rassistisches, islam- und judenfeindliches Pamphlet zu hinterlassen) in Hanau wahllos neun Menschen erschoss und anschließend erst seine Mutter und dann sich selbst tötete. Eine große Demo im Gedenken an die Opfer und gegen Rassismus sollte es heute werden, aber sie wurde kurzfristig verboten – wegen des verdammten Virus, die Zahl der Infizierten war in Hanau wieder stark gestiegen.
Die Angehörigen und alle anderen, die die Demo organisiert hatten, taten nicht das, was manche der sogenannten „Corona-Demonstranten“ tun. Sie faselten nichts von Merkels „Diktatur“ (als ließe sich Merkel nicht auch vernünftig kritisieren!); sie traten nicht auf, als wüssten sie besser als alle anderen, wie (un)gefährlich Corona ist; sie schwangen sich nicht zu den einzig wahren Verteidigern des Rechtsstaats auf wie diese Menschen, die den Rechtsstaat zwar gegen ein Stück Stoff verteidigen, aber nicht gegen Flüchtlings-Verhinderung, Bespitzelung oder Racial Profiling.
Nein, die Leute in Hanau äußerten nach dem Verbot Bedauern, und dann wandelten sie die Demo in eine online gestreamte Kundgebung um. Ich bewundere die ruhige, immer gesprächsoffene Form, in der diese Menschen ihre Verurteilung des Rassismus und auch ihre Kritik an der mangelnden Gegenwehr von Behörden äußern. Und deshalb kotzt es mich umso mehr an, wenn superkluge Autoren wie Herr Harald Martenstein meinen, die Corona-Demos gegen den Antirassismus ausspielen zu müssen: Er beschwert sich, dass die „FAZ“ gezielte Verstöße gegen Abstandsregeln als „Dummheit“ bezeichnet hat, aber antirassistische Demos als „Wohltat“, auch wenn dort das Einhalten der Regeln nicht immer gelang.
Ich bin nicht dafür, die Demos der „Covidioten“ (die ich übrigens so nicht nenne, ist mir zu platt-polemisch) zu verbieten. Aber es macht mir Angst, wie der mörderische Antirassismus durch schräge Vergleiche faktisch kleingeredet wird, um die Meinungsfreiheit von Leuten zu verteidigen, deren Meinungsfreiheit niemand infrage stellt. Während anderswo das Lebensrecht andersfarbiger Menschen infrage gestellt wird.
So, liebe Karin, das ist jetzt etwas lang geworden, aber es treibt mich halt um. Bin einfach zu nah dran. Wäre ich am Meer, ich würde es vielleicht sogar mal mit Abtauchen versuchen. Aber gerade kommt die Biene wieder, das tut auch schon gut.
Besitos! Stephan
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