tag 9

lieber stephan, 

du hast wie eigentlich fast immer vollkommen recht, deshalb habe ich mir vorgenommen, das c-wort ein paar tage lang zu vermeiden – vielleicht fällt der schorf dann irgendwann von alleine ab. ich will trotzdem von einer kurve erzählen. sie beschreibt kein pandemie-geschehen, sondern liegt auf dem weg von afissos, dem uns nächsten dorf am pagasitischen golf, hoch zu unserem ferienhaus. 

der vermieter und sein nachbar hatten uns lange vor der anreise vor dieser kurve gewarnt. gefährliche linkskurve, hatten sie gesagt. wir haben beide noch nie gesehen, aber sie sind über 70 und aufgrund ihres vorsprungs an lebenserfahrung stelle ich sie mir äußerlich ein bisschen vor wie den gott mit dem finger in der sixtinischen kapelle: bärtig, grau, linkskurvenerfahren. mein mann sagte: ha! er ist tatsächlich ein sehr guter fahrer und versteht es, ein auto souverän zu steuern, selbst rückwärts, jedenfalls dann, wenn er ohne mich unterwegs ist und meine taschen und meine gitarre nicht die sicht verstellen

wir fuhren also am späten abend in tiefer dunkelheit die straße zu unserem haus hinauf. mein mann sagte: oh, DAS ist die linkskurve. dann drehten die reifen durch. 

später, bei tageslicht, haben wir gesehen, dass an beiden enden der straße schilder mit der aufschrift: „attention! the road to afissos is downhill & dangerous“ aufgestellt sind. freundliche griechen haben handschriftlich die nummer des notrufs, 112, vermerkt. 

wir haben in dieser nacht beschlossen, die straße für den rest des urlaubs nicht zu befahren. gestern abend liefen wir zu fuß hinunter, ich schlitterte in sandalen über das glattgebremste, angstschweißpolierte pflaster, als ein paar im auto unverhofft den sachgerechten umgang mit der linkskurve demonstrierte. der fahrer hieß seine beifahrerin aussteigen, die mit einem mobiltelefon in der hand die straße hinunter lief, ihn aus der kurve heraus verständigte, woraufhin er die fahrt fortsetzte, sie unterwegs aufsammelnd. geht auch umgekehrt, klar, aber das linke hinterrad hebt in der kurve immer vom boden ab, ich habe das beobachtet. die götter nickten zufrieden. ich glaube, sie mögen die linkskurve. 

und der sonnenuntergang in affisos war himmlisch. 

besitos

* karin

  

tag 5

lieber stephan, 

ich hatte mit hoch-die-tassen-euphorie gerechnet, aber das gefühl, das sich einstellte, nachdem wir die griechische grenze passiert hatten, war viel kleiner und leiser und ging doch wesentlich tiefer – demütige erleichterung, die richtung. nicht weil ein ende der 2370-kilometer-reise in sicht war, sondern weil griechenland so da war, wie ich es in erinnerung hatte, unversehrt das gelb, das grau, das blau, das silbergrün, das mir so vertraut ist aus den vielen sommern der vergangenen jahre. und erst da wurde mir bewusst, wie grundsätzlich dieses beknackte virus während der vergangenen monate so gut wie alle gewissheiten in meinem leben erschüttert hat. wie wirkmächtig die ohnmacht ist, die es verbreitet. 

den allermeisten von uns sitzt corona wie ein tinitus im ohr, eine latente bedrohung des grundsätzlichsten. wir unterlassen selbstverständliches, alltägliche nähe, zusammenkünfte im mittelgroßen kreis, umarmungen. so gut wie nichts ist, wie es war, und offenbar hat mich das so sehr erschüttert, dass ich darauf vorbereitet war, in diesem sommer nach griechenland zu reisen ohne anzukommen. 

für heute nacht: entwarnung. alles da. und ich bin unendlich dankbar dafür, ein paar wochen hier verbringen zu dürfen. selten war mir so bewusst, was für ein privileg das ist und wie wenig selbstverständlich. zikaden singen, früher hätte ich nerven hart gesagt. ich war schwimmen im meer. es hat mich umarmt. 

besitos

* karin

tag 4

Liebe Karin,

heute extra zur Feier Deiner Ankunft: Hebel‘s Homeoffice proudly presents „original griechischen“ Feta! Ich weiß, da kannst Du nur grinsen in Deinem original griechischen Urlaubsparadies, aber ich werde beim Essen an euch denken.

Ich will Dir nicht verhehlen, dass mir heute die weniger angenehmen griechischen Zustände über den Weg gelaufen sind. Aber es trifft sich nun mal, dass ich an einem Text über einen gewissen Herrn Armin Laschet gearbeitet habe, sonst war halt nichts los. Und ich bin sicher, Du lässt Dir die Erholung nicht verderben. Weil Du nämlich so gut weißt wie ich, dass das Loslassen vom Elend der Welt, das Ausspannen und Genießen der beste Weg ist, um Kraft zu schöpfen, die Du brauchen wirst, wenn es wieder darum geht, sich all den Verrücktheiten auf diesem Globus zu stellen.

Der Herr Laschet war nämlich auch gerade in Griechenland, das weißt Du sicher, und er wollte sich allen Ernstes das Elend im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos anschauen. Nicht etwa, um endlich die Leute komplett da rauszuholen (vielleicht 15.000, wo ist das Problem für Deutschland?). Sondern um für zu Hause eine humanitäre Show abzuziehen, er will schließlich CDU-Vorsitzender werden.

Die Leute im Lager haben so heftig protestiert, dass Laschet lieber draußen geblieben ist. Geht doch! Ich habe das in meinem Porträt, das demnächst in der FR erscheint, als Beispiel für die Verlogenheit von Zuschreibungen wie „liberaler Flügel der CDU“ erwähnt. 

Aber jetzt ist Schluss. Ich habe eine kleine Malaise an der Schulter und gehe zur Krankengymnastik. Und Du wahrscheinlich schwimmen, viel Spaß dabei!

Besitos

Dein Stephan