tag 7

lieber stephan, 

ich bin froh zu hören, dass es deiner schulter wieder besser geht! noch mehr einschränkungen als ohnehin braucht gerade niemand.

versuchen menschen wie wir, die ja doch ziemlich wild entschlossen ihre urlaubspläne verfolgen, dem corona-alltag zu entfliehen? ich hab mich das heute gefragt, als wir mit unseren nachbarn ins gespräch kamen. wir leben hier auf einem hügel in der mitte des pilion, umgeben von olivenbäumen, algarven und oleandern, ein paar steinhäuser, von denen aus man zu fuß das meer erreichen kann. gestern nacht saßen wir auf der terrasse und haben einem gewitter am gegenüberliegenden ufer zugesehen. ein starker, warmer wind ging und am horizont leuchteten blitze. es war wie im theater. nein, eigentlich war es besser. wie verheerend sich dieses schauspiel 100 kilometer entfernt auf euböa ausgewirkt hat, erfuhren wir erst am nächsten morgen.

die neuen nachbarn erzählten uns, dass sie sechs wochen lang krank waren. sie sind ziemlich sicher, corona gehabt und überstanden zu haben. wir erzählten von unserem test am frankurter flughafen, der einreise in griechenland und der kontrolle unserer papiere. wir waren uns einig darin, wie belastend das alles ist und wie froh wir darüber sind, jetzt mal ein paar wochen ruhe davon zu haben. dann verabschiedeten wir uns. und hatten eine viertelstunde lang über nichts anderes gesprochen als das virus. wir alle sind wund und können kaum anders als am schorf zu knibbeln. wenn das hier eine flucht sein sollte, ist sie gescheitert. 

zumal uns gestern morgen eine warnung der corona-app auf dem smartphone begrüßte: ein positiv gestesteter mensch hat sich „über einen längeren Zeitpunkt und mit einem geringen Abstand“ in unserer nähe aufgehalten. passiert sein kann das eigentlich nur am frankfurter flughafen, im testzentrum. der mann hinter uns hatte seine maske unter der nase hängen, aber ich bezweifle, dass er die app benutzt, eben weil er die maske auf der oberlippe hängen hatte. was ist los mit diesen typen (es sind fast immer typen), die ihre nase entblößen müssen? ist das ein schwanzding? 

ich halte für ausgeschlossen, dass wir uns in der schlange im testzentrum wirklich angesteckt haben. alle wartenden trugen masken, wenn auch mitunter auf halbmast. und die app schlägt an, ob du mit einem positiv getesteten knutschst oder zwei meter hinter ihm im supermarkt stehst, beiderseits MNS-geschützt. dennoch verschonen wir unsere mitmenschen sicherheitshalber noch ein paar tage von uns. auf der terrasse sitzend. in olivenbaumkronen blinzelnd. im meer schwimmend. mach dir keine sorgen, es geht uns gut. manchmal kommen uns katzen besuchen.

besitos

* karin

tag 6

Liebe Karin,

Deine Nachricht ist mir trotz der 2370 Kilometer sehr nahegegangen. Du hast mich ein bisschen das Gefühl mitspüren lassen, dass das „Wiederfinden“ von etwas Altvertrautem, immer für sicher Gehaltenem den Verlust von Sicherheit und Vertrautheit noch deutlicher, noch schmerzhafter werden lässt. Verzeih den blöden Vergleich, aber ich musste an meine leicht lädierte Schulter denken, die für ein paar Tage ein bisschen geschmerzt hat. Jetzt fühlt sich alles wieder fast normal an, und erst im gesunden Zustand ist mir klargeworden, wie unangenehm das Gefühl des Krankseins, der eingeschränkten Bewegungsfreiheit (wenn auch nur eines Arms) war.

Wir hatten gerade Besuch von einer sehr, sehr lieben Verwandten, saßen mit ihr und dem Kater der Nachbarin draußen und haben lange darüber gesprochen, welches Privileg es auch schon bedeutet, über ein ruhiges und vertrautes Plätzchen zu Hause zu verfügen, wo man sich wenigstens in Worten nahekommen kann. Am Schluss hat sie fast verschämt gefragt, ob wir uns vielleicht kurz umarmen könnten… Wer wäre vor der verdammten Pandemie auf so eine Idee gekommen!

Aber wir waren uns auch einig, dass jedenfalls für uns, die wir uns keine großen materiellen Sorgen machen müssen, diese Einschränkungen im Sozialleben auch ein paar Möglichkeiten zum Nachdenken eröffnen. Zum Beispiel über das Termingehetze im Beruf wie im Privaten. Nein, ich will Corona nicht schönreden. Ich merke nur, dass auch diese Krise nicht ganz und gar ohne Chancen ist.

Den Kater der Nachbarin haben wir übers Wochenende in Pflege. Das Tier macht auf Melancholie, und wir fragen uns, ob Katzen vielleicht doch so anhänglich sein können, dass sie „Frauchens“ Abwesenheit aus der Bahn wirft. Ach, wahrscheinlich ist es einfach die Hitze. Eine Meerbrise könntest Du uns rüberschicken!

Lass Dich weiter umarmen, vom Meer und von allem, was Du liebst.

Dein Stephan