tag 20

Liebe Karin,

wir hatten es ja schon ein paar Mal mit den Kontrasten, und ich fühle das heute mal wieder besonders stark. Ein sonniger Samstag, die Schwüle ist einer milden Brise gewichen, gerade eben hat sich eine Biene in unsere Balkonblumen versenkt. Und ein paar Kilometer von hier, in Hanau, regiert die Trauer.

Ein halbes Jahr ist es jetzt her, seit am 19. Februar ein Mann (nicht ohne ein rassistisches, islam- und judenfeindliches Pamphlet zu hinterlassen) in Hanau wahllos neun Menschen erschoss und anschließend erst seine Mutter und dann sich selbst tötete. Eine große Demo im Gedenken an die Opfer und gegen Rassismus sollte es heute werden, aber sie wurde kurzfristig verboten – wegen des verdammten Virus, die Zahl der Infizierten war in Hanau wieder stark gestiegen.

Die Angehörigen und alle anderen, die die Demo organisiert hatten, taten nicht das, was manche der sogenannten „Corona-Demonstranten“ tun. Sie faselten nichts von Merkels „Diktatur“ (als ließe sich Merkel nicht auch vernünftig kritisieren!); sie traten nicht auf, als wüssten sie besser als alle anderen, wie (un)gefährlich Corona ist; sie schwangen sich nicht zu den einzig wahren Verteidigern des Rechtsstaats auf wie diese Menschen, die den Rechtsstaat zwar gegen ein Stück Stoff verteidigen, aber nicht gegen Flüchtlings-Verhinderung, Bespitzelung oder Racial Profiling. 

Nein, die Leute in Hanau äußerten nach dem Verbot Bedauern, und dann wandelten sie die Demo in eine online gestreamte Kundgebung um. Ich bewundere die ruhige, immer gesprächsoffene Form, in der diese Menschen ihre Verurteilung des Rassismus und auch ihre Kritik an der mangelnden Gegenwehr von Behörden äußern. Und deshalb kotzt es mich umso mehr an, wenn superkluge Autoren wie Herr Harald Martenstein meinen, die Corona-Demos gegen den Antirassismus ausspielen zu müssen: Er beschwert sich, dass die „FAZ“ gezielte Verstöße gegen Abstandsregeln als „Dummheit“ bezeichnet hat, aber antirassistische Demos als „Wohltat“, auch wenn dort das Einhalten der Regeln nicht immer gelang. 

Ich bin nicht dafür, die Demos der „Covidioten“ (die ich übrigens so nicht nenne, ist mir zu platt-polemisch) zu verbieten. Aber es macht mir Angst, wie der mörderische Antirassismus durch schräge Vergleiche faktisch kleingeredet wird, um die Meinungsfreiheit von Leuten zu verteidigen, deren Meinungsfreiheit niemand infrage stellt. Während anderswo das Lebensrecht andersfarbiger Menschen infrage gestellt wird.  

So, liebe Karin, das ist jetzt etwas lang geworden, aber es treibt mich halt um. Bin einfach zu nah dran. Wäre ich am Meer, ich würde es vielleicht sogar mal mit Abtauchen versuchen. Aber gerade kommt die Biene wieder, das tut auch schon gut.

Besitos! Stephan

tag 18

Liebe Karin,

wusstest Du eigentlich, dass ich seit ungefähr 15 Jahren Urlaub auf den Kanaren mache (na ja, „seit 15 Jahren“, leider sind wir zwischendurch immer knapp ein Jahr zu Hause) – und in dieser ganzen Zeit ungefähr ein einziges Mal mehr als einen Fuß ins Meer gesetzt habe? Nämlich zwei Füße? Sag es nicht weiter, jeder ist auf seine Art bekloppt, aber ich habs nicht so sehr mit dem Wasser. Der lieben Gattin geht es nicht anders, das erleichtert die Abstimmung gewaltig.

Wenn Du jetzt sagst, dann könnte ich genauso gut Urlaub im Umland von Hannover machen, wo wir uns ja gerade mal kurz aufgehalten haben, dann sage ich: Na ja. Der Ort, wo der Freund wohnt, von dem ich Dir vorgestern erzählt habe, ist so gesichtslos wie ein Nacktmull. Aber wir haben erlebt, dass Menschen, die dort verwurzelt sind, sich richtig gut aufgehoben fühlen. Sie müssen die Wurzeln gar nicht weit ausstrecken, um auf Bekannte und Bekanntes zu stoßen, und das tut ihnen, so war mein Gefühl, richtig gut. 

Mit beschränktem Horizont hat dieses Kleinstadt-Leben nichts zu tun, das sind Menschen, die viel erlebt und gesehen haben. Aber sie wissen, wohin sie zurückkommen, das ist etwas wert. Vielleicht jetzt mehr denn je.

Es war übrigens unsere erste Übernachtung im Hotel seit Corona, ein seltsames Gefühl. Desinfektionsmittel satt, überall, und zum Frühstück für jede und jeden eine eigene Wurst-Käse-Platte mit Deckel drüber. Riesen-Portionen, ich will mir gar nicht ausmalen, was die mit den Resten machen. Man könnte eine ganze Hundekolonie auf dem Pilion damit füttern.

Wir wollen im Herbst noch mal hinfahren, der Biergarten hat Heizstrahler. Ein Wahnsinn, ökologisch gesehen. Aber dafür fällt wohl in diesem Winter der Flug auf die Kanaren aus…

Schwimmt ein bisschen für mich mit!

Besitos, Dein Stephan

tag 16

Liebe Karin,

so eine Urlaubswoche zu Hause kann schon auch etwas Wunderbares sein. Kein Laptop auf dem Balkontisch, stattdessen stapele ich – wie Du siehst – meine Lieblings-Espressotassen wie „vorgeschrieben“ zum Kaktus und träume von meinen früheren Reisen nach Mexiko. Lange her, damals ging es dort nicht ganz friedlich, aber doch viel friedlicher zu als heute. Die Tassen hat mir die liebe Gattin zum Geburtstag geschenkt, sie stammen aus Barcelona. Auch so ein Ort, den wir eigentlich sehr lieben.

Stattdessen heute: Hannover. Beziehungsweise Umland Hannover, wir fahren gleich los. Da lebt jetzt einer unserer allerbesten Freunde. Ein Mann, den ich mehr bewundere als viele prominente „Lichtgestalten“.

Warum? Weil er einem gar nicht einfachen Leben immer noch Freude und Genuss abringt. 

Er (Namen lasse ich hier ganz weg) hatte sich aus sehr schwierigen Verhältnissen in spannende und gut dotierte Jobs hochgearbeitet – schon das ist für einen wie mich, der sehr gute Voraussetzungen mitbekommen hat, absolut bewundernswert. Dann kamen Rückschläge: ein Arbeitgeber, dem die klare Haltung meines Freundes nicht passte, ein Auftraggeber, der es mit Loyaliität nicht so sehr hatte. Es folgte die Erfüllung eines Traums: ein kleines, eigenes Geschäft. Und dann die Krankheit.

Eine nicht akut lebensgefährliche, aber tückische Krankheit, die aber mit dem eigenen Laden nicht zu vereinbaren war. Zum Glück hat er wenigstens jetzt eine Behandlung, die ihn zuemlich normal leben lässt.

Na ja: Das Geld ist weitgehend weg, der Mann muss von einem Minimum leben, er gehört längst zum Thema „Armut in Deutschland“. Und was tut er? Verdient, so gut es geht, ein bisschen was dazu, lebt sparsam, aber so gut wie möglich genussvoll mit seiner Liebsten und unterhält uns, wann immer wir ihn sehen, mit seiner liebenswürdigen Art und seinem wachen, klugen Geist.

Versteh mich nicht falsch: Immer wenn ich solche Geschichten höre oder erzähle, droht es wie das FDP-Gelaber vom „Jeder ist seines Glückes Schmied“ zu klingen. Oh nein, mein Freund hätte Zeit seines Lebens einen besseren Sozialstaat gebraucht, von der schwierigen Kindheit bis zu seinem fast lebensgefährlichen Ärger mit gewissen Institutionen nach der Erkrankung. Dass es Menschen gibt, die aus ungerechten Bedingungen noch so viel machen, heißt ja nicht, dass die Bedingungen nicht ungerecht sind. 

Mein Freund ist ein Kämpfer, und das Leben so gut es geht zu genießen, steht bei ihm dazu in überhaupt keinem Widerspruch. Im Gegenteil!

Mir macht das Mut, es spornt mich an: zum Kämpfen und zum Genießen.

Genießt die Tage!

Besitos, Dein Stephan

tag 14

Liebe Karin,

den Glückwunsch für den lieben Thilo haben wir ja auf anderem Weg übermittelt, aber ich schließe mich der Botschaft Deiner Kerzen von Herzen noch mal an.

Besonders beeindruckt war ich von der Tisch-Erweiterung per Brett, und das trifft sich hervorragend, denn ich kann mit dem Erfindungsreichtum meiner lieben Gattin kontern. Du ahnst gar nicht, wie schlecht das Angebot einschlägiger Baumärkte an platzsparenden Sonnenschirm-Ständern ist! Die Lösung: Wir haben einen alten, kleinen Weihnachtsbaumständer zur Saisonware gemacht: Sommers Sonnenschirm halten und winters das Bäumchen, falls wir eins wollen…

A propos Weihnachten: Was mir dabei leider im Ernst einfällt (beziehungsweise sowieso durch den Kopf geht), ist die Furcht vor dem Corona-Winter. Wir haben ja jetzt auch eine Woche Urlaub, die wir zwar weitgehend zu Hause verbringen (ich freue mich sehr drauf!), aber auch für zwei Kurzreisen nutzen wollen: einmal zu meiner lieben Schwiegermutter und einmal zu Freunden.

Wir haben ungefähr zwei Stunden lang etwa ein Dutzend Wetter-Apps befragt, bis wir halbwegs sicher waren, an welchem Abend wir draußen sitzen können. Und wir haben uns für das Autofahren entschieden, obwohl wir Zug viel schöner und vernünftiger finden – die Waggons sind schon wieder ziemlich voll, und was man von der „Vernunft“ vieler Menschen hört, macht keinen Mut, sich in die relative Enge zu begeben. 

Ich bin ja wirklich niemand, der für blinden Gehorsam plädiert. Aber ich verstehe einfach nicht diese Leute, die, statt einfach den Weg der Vorsicht zu gehen, ihre Lust am „Widerstand“ ausgerechnet jetzt entdecken, nur weil es mal persönlich unangenehm wird. Als gäbe es nicht tausende andere Gründe, das Maul aufzureißen, auch ohne Corona!

Aber ich war beim Winter: Was soll das werden, wenn es wieder kälter ist? Schießen dann die Heizpilze wie Heizpilze aus dem Boden? Oder sitzen wir wieder isoliert zu Hause? Ich habe ein bisschen ein schlechtes Gewissen, das jetzt so vor Dir auszubreiten, ich will Dir nicht den Urlaub verderben. Ihr wollt und sollt ja Kraft tanken für das, was kommt, und nicht Angst. Aber das tut ihr sicher, auch wenn die Gedanken nicht immer die fröhlichsten sind.

Den Text zu Willy Brandt, bei dem ich vorgestern hängengeblieben war, habe ich jetzt auch schon fertig. Und der Blick auf die freie Woche tut verdammt gut. Ich werde es genießen, und das wünsche ich euch auch!

Besitos, Dein Stephan

tag 12

Liebe Karin,

immerhin hat es gut angefangen. Ich hatte fest vor, heute den Text über Willy Brandt zu schreiben, und zwar möglichst ganz. Du ahnst es: Daraus ist nichts geworden.

Der Text soll in der Serie zum 75. Geburtstag der Frankfurter Rundschau erscheinen. Da wird jeden Tag ein Mensch vorgestellt, der für eines der 75 Jahre steht und etwas Mutiges getan hat. Bei Willy Brandt ist es das Jahr 1969, in dem er zum ersten SPD-Kanzler der Bundesrepublik gewählt wurde. Und mutig war es allemal, wie er gegen großes Geschrei der Antikommunisten seine Entspannungspolitik gegenüber den kommunistischen Diktaturen im Osten Europas durchgesetzt hat (DDR inklusive).

Dummerweise ist mir, kaum hatte ich angefangen, ein eigenes Erlebnis eingefallen: Ich habe ihn erlebt, den Brandt, am 12. November 1972 (das habe ich nachgeschaut, zugegeben) in der Frankfurter Festhalle bei einer Kundgebung zur nächsten Bundestagswahl. (Ohne den Leuten zu viel zu verraten: Du kannst leicht ausrechnen, wie alt Du an diesem Tag warst.)

Ich jedenfalls war 16 und komplett begeistert. Zwar hat sich das Bild der schönen Jungsozialistin G., die mich mitgenommen hatte, nachhaltig vor Brandts Rede geschoben. Aber das Gefühl, dass da einer mit tiefer Überzeugung und gegen heftigen Widerstand für eine wirklich neue Politik gestritten hat, das ist geblieben. Auch wenn ich der SPD nie wieder so nah gekommen bin…

Ich bin heute derart in meinen Erinnerungen hängengeblieben, dass ich nichts anderes mehr zustande gebracht habe, als in Brandts Biografie herumzugoogeln. Mir ging immer wieder durch den Kopf, wie ich die Debatte über das Misstrauensvotum verfolgt habe, mit dem die CDU Brandt stürzen wollte, das war auch 1972. Ich meine: Pubertierende Jungs (ich war ja nicht der einzige!) sitzen zitternd vor dem Radio und drücken einem SPD-Politiker die Daumen, ist das nicht unglaublich? 

Mir fällt das alles nicht nur ein, wenn ich gerade über Willy Brandt schreibe. Ich muss oft daran denken, wenn mir Leute erzählen, sie interessierten sich nicht für Politik. Ich habe damals gelernt, dass Politiker die Welt sogar besser machen können. Soll das etwa nicht mehr stimmen, „nur“ weil es im Moment fast keiner tut?

War trotzdem ein schöner Tag, ich komme mir vor, als wäre ich kurz verreist gewesen. Und der „Willy“ bekommt halt von mir eine Sonderschicht am Wochenende.

Denkt an was Schönes und passt auf den Sonnenschirm auf!

Dein Stephan