Genmix

Ich habe mich stundenlang gefragt, warum sich diese beiden Dinge seit Stunden in meinem Kopf verbinden: die kleine S. und dieses großartige Interview über Rassen und Rassismus. Ich glaube, jetzt weiß ich es.

Gestern ist die kleine S. drei Jahre alt geworden. Ich habe sie ein paar Tage davor bei einem Arbeitstreffen kennengelernt, zu dem ihr Vater sie mitgebracht hatte. Er ist Sozialwissenschaftler und gehört zu den Leuten, denen zum Beispiel das Gendern beim Reden schon in Fleisch und Blut übergegangen ist. Da wird vor dem Binnen-I ein Sprechpäuschen eingelegt (Teilnehmer-innen etc.), und das mit einer Selbstverständlichkeit, die in scharfem Kontrast zu manchen Debatten in meinem Freundeskreis steht. Das sind keine verbohrten Konservativen, meine Freund-innen, aber sie tun sich extrem schwer mit der Anforderung einer (noch) Minderheit, ihre Sprechweisen zu ändern. Das finde doch ohnehin nur in irgendwelchen »Blasen« statt, hat mir gerade wieder einer meiner Liebsten entgegengehalten.

Ich habe mir vorgestellt, dass solche Dinge wie das Gendern für die kleine S. vollkommen normal sein werden, wenn sie erwachsen wird. Ich ecke zwar regelmäßig schmerzhaft an, wenn ich das im Freundeskreis sage, aber ich glaube, es wird passieren und die Sprache wird es überleben, wie sie auch andere Veränderungen schon überlebt hat.

Wir kennen diese Debatten ja nicht nur vom Gendern, siehe nur das »N-Wort«. Ich finde schon, dass das antirassistische Engagement manchmal zu irritierenden Ausschlägen führt – zum Beispiel, wenn infrage gestellt wird, ob weiße Menschen das Gedicht einer Schwarzen Autorin übersetzen können. Aber ich lehne dieses Engagement deshalb nicht pauschal ab wie andere, die sich darüber erstaunlich heftig aufregen können.

Nehmen wir mal das Wort »Rasse«, das ja bekanntlich im Grundgesetz steht (Niemand darf wegen…benachteiligt werden). Das waren ja keine Rassistinnen und Rassisten, die das 1949 aufgeschrieben haben, das Wort »Rasse« war damals das Selbstverständlichste der Welt. Aber jetzt kommt das Interview: Johannes Krause ist »Archäogenetiker« ein Wort, das ich bis gestern nicht kannte. Er erforscht das Genmaterial in Knochenfunden und erzählt in dem Interview zum Beispiel, dass der Ackerbau von Anatolien nach Mitteleuropa kam, kurz gesagt: Das schöne christliche Abendland verdankt sich wahrscheinlich »Türken« – und wir sind keine »Rasse«, sondern ein lustiger Genmix aus allem Möglichen.

In meinem Freundeskreis gibt es nun wirklich keine Rassistinnen und Rassisten. Aber ich bin einfach froh, den Zweifelnden dort etwas entgegenhalten zu können: dass das Denken und die Sprache sich entwickeln, je nachdem, wo das Licht der Aufklärung gerade leuchtet. Also werde ich ihnen auch beim nächsten Mal erzählen, dass das Lernen beim Umgang mit Wörtern ein schöner Fortschritt sein kann, egal ob es um Geschlechter geht oder um »Rassen«.

Stephan Hebel

Corso

Es ist hier eine ganze Weile sehr still gewesen, was damit zu tun hat, dass ich seit unserer Rückkehr aus Griechenland zuhause einen Patienten im Bett liegen habe. Es ist kein Corona, aber trotzdem sehr schmerzhaft, und unter diesen Umständen fällt es dann noch schwerer, etwas zu finden, das leuchtet und gut tut. Aber jetzt, wo es langsam etwas besser geht, komme auch ich wieder zu mir und neulich abend war es dann plötzlich da, das Licht. Und es hupte. 

Ich muss vielleicht dazu sagen, dass ich mich für Fußball im Grunde überhaupt nicht interessiere. Null, nada. Den Unterschied zwischen Deutscher Meisterschaft und DFB-Pokal lasse ich mir jedes Jahr aufs Neue erklären, um ihn nur Augenblicke später wieder zu vergessen. Trotzdem habe ich mich in den vergangenen zehn Jahren von den sehr netten Kollegen von ZEIT online immer wieder dazu überreden lassen, während internationaler Wettkämpfe die Patenschaft für eine der teilnehmenden Nationalmannschaften zu übernehmen – während EMs für Portugal, während WMs für Argentinien. Und das ist eben das Irre: Obwohl mir Fußball eigentlich furchtbar egal ist, nehme ich mir, wenn ich es dann mit ansehen muss, die Spiele mit einer solchen Leidenschaft zu Herzen, dass ich manchmal nach herben Niederlagen ernsthaft in Tränen ausgebrochen bin. 

Nach dem Aus für Argentinien bei der WM 2018 habe ich mein Amt als Fußball-Patin offiziell niedergelegt. Aus Frust und auch ein bisschen aus emotionalem Selbstschutz. Und in diesem Jahr habe ich bisher tatsächlich kein einziges Spiel angesehen. Dass in diesen Tagen eine Fußball-Europameisterschaft ausgetragen wird, bemerke ich nur deshalb, weil man seit Wochen im Supermarkt wieder nicht mal eine scheiß Bockwurst ohne Schwarzrotgoldschallala kaufen kann. Mir ist der so genannte Party-Patriotismus schon immer auf die Nerven gegangen, aber in diesem Jahr begegnet er mir wenigstens nur, wenn ich einkaufen gehe. 

Weil ich einen Patienten zu versorgen hatte und mich unterdessen auf nichts richtig gut konzentrieren konnte, habe ich viel Zeit in unserer Küche verbracht und gestickt. Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, es ist irgendwie passiert, und wenn es auch nicht viele praktische Gründe gibt, die für’s Sticken sprechen, dann doch immerhin diesen: Man muss sich nicht übermäßig konzentrieren und kann die Arbeit jederzeit problemlos unterbrechen. 

Und während ich so da saß und bei offenem Fenster die Tage durchstickte, fiel mir zum ersten Mal auf, dass sich in dieser Stadt tatsächlich nach jedem Spiel ein Corso durch die Straßen hupt. Mal sind es mehrere lärmende Wagen, manchmal nur eine Handvoll, die leise tröten, aber gehupt werden muss. Und wenn man das in seiner Küche auf sich wirken lässt und einem der ganze Fahnenkram erspart bleibt, dann zeigt dieses Schauspiel einfach nur, in was für einer unglaublich bunten kleinen Stadt wir leben. Und das, lieber Stephan, ist mir Licht.  

Unter dem Titel »Am Ende des Tunnels« wollen mein Freund und Kollege Stephan Hebel und ich uns in den kommenden Monaten in wöchentlicher Folge auf die Suche nach Lichtblicken machen, im Großen wie im Kleinen.

Hoffnung

Ich könnte ja sagen, hier in Deutschland sei eine Phase der Hoffnung angebrochen. Die Biergärten machen auf, die Bäume vor unserem Schweinelampe-Fenster werden grün vor Glück über den Regen, den es in diesem Mai auch mal wieder gibt, und ich glaube, die Hälfte der Bevölkerung überrennt die Buchungsportale für die Sommerferien. Und ich habe Urlaub, ein paar Tage an der Mosel inklusive.

Ich will ja nichts schlechtreden, aber trotz allem ist es mit der Hoffnung so eine Sache. Mit wird schon mulmig, wenn aus nationaler Schlechtgelauntheit urplötzlich eine Stimmung kriecht, als würden wir übermorgen wieder so leben wie vor Corona. Unsinn, der nur neue Enttäuschung produziert! 

Aber dann lese ich (kurz vorm Urlaub, es war noch Arbeit), was Erich Fromm, der große Sozialpsychologe, über die Hoffnung geschrieben hat: »Hoffnung ist paradox. Sie ist weder ein untätiges Warten noch ein unrealistisches Herbeizwingenwollen von Umständen, die nicht eintreffen können. Sie gleicht einem kauernden Tiger, der erst losspringt, wenn der Augenblick zum Springen gekommen ist.«

Das bewegt etwas in mir. Das ist mehr als »Hoffen« auf Ferien in Norddeich oder Mallorca. Das ist so etwas wie aktives Vorbereitetsein auf mehr, auf Veränderung, auf Überwindung der vielen Dinge, die mich im Jetzt ziemlich traurig machen, wie zum Beispiel ein Diktator (Luklaschenko, Belarus), der ein Flugzeug vom Himmel holen lässt, um einen urlaubenden Dissidenten aus dem Exil zu holen und zu verhaften. 

Und ich lese weiter bei Fromm: »Weder ein müder Reformismus noch ein pseudo-radikales Abenteurertum ist ein Ausdruck von Hoffnung. Hoffen heißt, jeden Augenblick bereit sein für das, was noch nicht geboren ist.«

Ich freue mich wahnsinnig, wenn wir uns wieder im Biergarten treffen. Aber ich schaue auch in den Baum hinter der Schweinelampe, der so grün ist, als wäre das Klima gesund, und spüre: Hoffnung.

Stephan Hebel

Bleistiftpeople

Ich habe eine Schwäche für Schreibwaren. Vor allem mag ich Füller und besitze sie in so grotesker Menge, dass es mir nicht gelingt, sie alle durch regelmäßigen Gebrauch vor dem Eintrocknen zu bewahren. Ein weiteres Problem ist: Füller mögen mich nicht, vor allem die zum Aufziehen. Egal was ich beim Schreiben anstelle, die Tinte landet in erheblichem Umfang an meinen Fingern. Und natürlich sind mir auf dem Weg nach Griechenland zwei Tintenfässer im Rucksack ausgelaufen. Ja: zwei. Eine Schwäche, wie gesagt. 

Wahrscheinlich bin ich einfach kein Füllermensch. Ich gehöre zu den Bleistiftpeople. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Finger bleiben sauber, man kann im Liegen schreiben und sich beim Spitzen einbilden, dass das, was man da treibt, tatsächlich was mit Handwerk zu tun hat. Vor allem aber erinnern mich Bleistifte an eine Begegnung, die zwar schon einige Zeit zurück liegt, aber immer noch leuchtet, wenn ich daran denke. 

Es war in Kalavryta, einer Kleinstadt in den Bergen der Peleponnes, wo die Wehrmacht am 13. Dezember 1943 ein Massaker verübte – eine »Sühnemaßnahme«, nachdem griechische Partisanen in der Umgebung deutsche Soldaten entführt und getötet hatten. In Kalavryta sperrten Soldaten am Morgen Frauen und Kinder in der Schule ein, ehe sie das Gebäude in Brand setzten. Die Männer hatte man zuvor auf einem Hügel über der Stadt zusammengetrieben, um sie zu zwingen, dem Morden zuzusehen, ehe sie selbst erschossen, erschlagen, ermordet wurden. Warum den Eingeschlossenen am Ende doch die Flucht aus der Schule gelang, ist nicht genau überliefert. Nur 13 Männer überlebten das Massaker. In der Schule befindet sich heute ein Museum. Als wir nach dem Besuch vom Grauen benommen ins Freie traten, fiel unser Blick auf die Turmuhr der Kirche, die am 13. Dezember 1943 um 13.34 Uhr stehen geblieben ist.

Für den Rest des Tages sprachen wir in den Straßen fast flüsternd miteinander. Die meisten alten Frauen der Stadt waren schwarz gekleidet und wir wussten nicht, wen deutsche Worte bis heute schmerzen.

Irgendwann betraten wir ein kleines Geschäft. Es war der vorletzte Tag unserer Reise, ich wollte griechischen Bergtee und Honig mitnehmen. Das Alter der Verkäuferin ließ sich schwer schätzen. Vielleicht hatte sie den 13. Dezember 1943 als Kleinkind auf dem Arm ihrer Mutter in der Schule erlebt, vielleicht war sie auch erst kurz darauf geboren worden, in eine heillose, untröstliche Stille. Sie war sehr freundlich und schnell wurde klar, dass wir uns mit Händen und Füßen würden verständigen müssen. An der Kasse versuchte sie, den Preis für meinen Einkauf auf einem Blatt Papier zu notieren, aber weil ihr Bleistift stumpf war, gelang es ihr nur, Furchen ins Papier zu ritzen. 

Aufgrund meiner Schwäche für Schreibwaren führe ich immer ein dickes Mäppchen bei mir. Also kramte ich in meinem Rucksack und streckte ihr kurz darauf einen Spitzer entgegen. Ein paar Sekunden lang passierte gar nichts. Dann nahm sie den Spitzer entgegen, lächelte und nahm mich in den Arm, sehr fest und zu lang für die Aussicht auf einen gespitzten Bleistift. Etwas Großes, Unwahrscheinliches, etwas, wofür ich unendlich dankbar bin, ist an diesem Nachmittag zwischen Tee und Honig passiert. Und es leuchtet.

Unter dem Titel »Am Ende des Tunnels« wollen mein Freund und Kollege Stephan Hebel und ich uns in den kommenden Monaten in wöchentlicher Folge auf die Suche nach Lichtblicken machen, im Großen wie im Kleinen.
Foto: raumlaborberlin

Freiluftkultur

Der Sommer in Frankfurt war dieses Jahr ein bisschen kurz. Er fand statt am Sonntag, dem 9. Mai, den ganzen Tag bis weit in die Nacht. Ich durfte arbeiten, aber für einen kleinen Gang zur Eisdiele war Zeit, und die Sonne verbreitete ein Licht, das jeden Gedanken an Tunnel vertrieb. Abends ein Glas Wein vor der Haustür. 

Jetzt ist wieder Tunnel, Wolken überall, immer mal Regen, und wir sollten uns ja auch nicht beklagen, zu trocken ist es sowieso. Ich sammle einfach wieder Lichtblicke der anderen Art, und ehrlich gesagt: Irgendwas findet sich immer. Heute: Die Leute, die den Pandemie-Frust in Ideen verwandeln, in Aufbrüche und Gelegenheiten.

Klar, das gelingt denjenigen leichter, die nicht in Sozialblocks eingesperrt sind und ihr Geld mit Paketeschleppen verdienen müssen. Aber andererseits: Auch Privilegierte können fantasievoll und mutig sein oder eben auch nicht.

In der Frankfurter Kulturszene, die ja auch ihre Gründe zum Klagen hätte, wollten sie nicht düsteren Gemüts in den zweiten Corona-Sommer stolpern, sondern sie haben sich etwas ausgedacht. Sollte es doch noch mal Sommerwetter geben, können wir die Aufführungen des Künstlerhauses Mousonturm oder des Ensemble Modern in einem temporären Freilufttheater anschauen und anhören. Ein sechseckiger Bau, entworfen von dem Architekturkollektiv »Raumlaborberlin«, bestehend aus einer Bühne in der Mitte und 100 gut durchlüfteten Logen drumherum. 

Wenn ich so etwas sehe und höre, geht mir wenigstens für Momente das Gefühl der Ohnmacht verloren. Ich spüre, dass man sich auch im Tunnel bewegen kann, und sehe Licht.

Stephan Hebel

Foto: ©️raumlaborberlin