Bleistiftpeople

Ich habe eine Schwäche für Schreibwaren. Vor allem mag ich Füller und besitze sie in so grotesker Menge, dass es mir nicht gelingt, sie alle durch regelmäßigen Gebrauch vor dem Eintrocknen zu bewahren. Ein weiteres Problem ist: Füller mögen mich nicht, vor allem die zum Aufziehen. Egal was ich beim Schreiben anstelle, die Tinte landet in erheblichem Umfang an meinen Fingern. Und natürlich sind mir auf dem Weg nach Griechenland zwei Tintenfässer im Rucksack ausgelaufen. Ja: zwei. Eine Schwäche, wie gesagt. 

Wahrscheinlich bin ich einfach kein Füllermensch. Ich gehöre zu den Bleistiftpeople. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Finger bleiben sauber, man kann im Liegen schreiben und sich beim Spitzen einbilden, dass das, was man da treibt, tatsächlich was mit Handwerk zu tun hat. Vor allem aber erinnern mich Bleistifte an eine Begegnung, die zwar schon einige Zeit zurück liegt, aber immer noch leuchtet, wenn ich daran denke. 

Es war in Kalavryta, einer Kleinstadt in den Bergen der Peleponnes, wo die Wehrmacht am 13. Dezember 1943 ein Massaker verübte – eine »Sühnemaßnahme«, nachdem griechische Partisanen in der Umgebung deutsche Soldaten entführt und getötet hatten. In Kalavryta sperrten Soldaten am Morgen Frauen und Kinder in der Schule ein, ehe sie das Gebäude in Brand setzten. Die Männer hatte man zuvor auf einem Hügel über der Stadt zusammengetrieben, um sie zu zwingen, dem Morden zuzusehen, ehe sie selbst erschossen, erschlagen, ermordet wurden. Warum den Eingeschlossenen am Ende doch die Flucht aus der Schule gelang, ist nicht genau überliefert. Nur 13 Männer überlebten das Massaker. In der Schule befindet sich heute ein Museum. Als wir nach dem Besuch vom Grauen benommen ins Freie traten, fiel unser Blick auf die Turmuhr der Kirche, die am 13. Dezember 1943 um 13.34 Uhr stehen geblieben ist.

Für den Rest des Tages sprachen wir in den Straßen fast flüsternd miteinander. Die meisten alten Frauen der Stadt waren schwarz gekleidet und wir wussten nicht, wen deutsche Worte bis heute schmerzen.

Irgendwann betraten wir ein kleines Geschäft. Es war der vorletzte Tag unserer Reise, ich wollte griechischen Bergtee und Honig mitnehmen. Das Alter der Verkäuferin ließ sich schwer schätzen. Vielleicht hatte sie den 13. Dezember 1943 als Kleinkind auf dem Arm ihrer Mutter in der Schule erlebt, vielleicht war sie auch erst kurz darauf geboren worden, in eine heillose, untröstliche Stille. Sie war sehr freundlich und schnell wurde klar, dass wir uns mit Händen und Füßen würden verständigen müssen. An der Kasse versuchte sie, den Preis für meinen Einkauf auf einem Blatt Papier zu notieren, aber weil ihr Bleistift stumpf war, gelang es ihr nur, Furchen ins Papier zu ritzen. 

Aufgrund meiner Schwäche für Schreibwaren führe ich immer ein dickes Mäppchen bei mir. Also kramte ich in meinem Rucksack und streckte ihr kurz darauf einen Spitzer entgegen. Ein paar Sekunden lang passierte gar nichts. Dann nahm sie den Spitzer entgegen, lächelte und nahm mich in den Arm, sehr fest und zu lang für die Aussicht auf einen gespitzten Bleistift. Etwas Großes, Unwahrscheinliches, etwas, wofür ich unendlich dankbar bin, ist an diesem Nachmittag zwischen Tee und Honig passiert. Und es leuchtet.

Unter dem Titel »Am Ende des Tunnels« wollen mein Freund und Kollege Stephan Hebel und ich uns in den kommenden Monaten in wöchentlicher Folge auf die Suche nach Lichtblicken machen, im Großen wie im Kleinen.
Foto: raumlaborberlin

Freiluftkultur

Der Sommer in Frankfurt war dieses Jahr ein bisschen kurz. Er fand statt am Sonntag, dem 9. Mai, den ganzen Tag bis weit in die Nacht. Ich durfte arbeiten, aber für einen kleinen Gang zur Eisdiele war Zeit, und die Sonne verbreitete ein Licht, das jeden Gedanken an Tunnel vertrieb. Abends ein Glas Wein vor der Haustür. 

Jetzt ist wieder Tunnel, Wolken überall, immer mal Regen, und wir sollten uns ja auch nicht beklagen, zu trocken ist es sowieso. Ich sammle einfach wieder Lichtblicke der anderen Art, und ehrlich gesagt: Irgendwas findet sich immer. Heute: Die Leute, die den Pandemie-Frust in Ideen verwandeln, in Aufbrüche und Gelegenheiten.

Klar, das gelingt denjenigen leichter, die nicht in Sozialblocks eingesperrt sind und ihr Geld mit Paketeschleppen verdienen müssen. Aber andererseits: Auch Privilegierte können fantasievoll und mutig sein oder eben auch nicht.

In der Frankfurter Kulturszene, die ja auch ihre Gründe zum Klagen hätte, wollten sie nicht düsteren Gemüts in den zweiten Corona-Sommer stolpern, sondern sie haben sich etwas ausgedacht. Sollte es doch noch mal Sommerwetter geben, können wir die Aufführungen des Künstlerhauses Mousonturm oder des Ensemble Modern in einem temporären Freilufttheater anschauen und anhören. Ein sechseckiger Bau, entworfen von dem Architekturkollektiv »Raumlaborberlin«, bestehend aus einer Bühne in der Mitte und 100 gut durchlüfteten Logen drumherum. 

Wenn ich so etwas sehe und höre, geht mir wenigstens für Momente das Gefühl der Ohnmacht verloren. Ich spüre, dass man sich auch im Tunnel bewegen kann, und sehe Licht.

Stephan Hebel

Foto: ©️raumlaborberlin

egremni beach, lefkada

The greek thing to do

Das mit dem Licht war auch diese Woche gar nicht so einfach, selbst wenn man den Tatort am Sonntagabend gar nicht sehen kann. Es erreicht einen ja trotzdem noch so gut wie alles, selbst auf einer kleinen griechischen Insel, und wenn ich auf Twitter Nachrichten über Polizeigewalt und tote Demonstranten in Kolumbien lese, könnte ich heulen. Der Router am Haus wollte mir wahrscheinlich eine Freude machen und hat gestern Nachmittag aufgehört zu funktionieren. Aber das Licht kam erst, als heute Mittag mein Freund Thomas aus Athen anrief. 

Thomas ist der Mann, der Schuld daran ist, dass ich mich sehr konzentrieren muss, wenn ich ein paar der wenigen mir verfügbaren Worte auf Griechisch sage. Ich memoriere die Sätze als Lautmasse und gebe sie später wie eine Art Melodie wieder, bei hoffentlich passender Gelegenheit, aber so genau wissen kann man das eben nie. Thomas bringt mir gern Versautes auf Griechisch bei, aber heute brachte er vor allem Licht. In Griechenland ist heute, Dienstag, nämlich der 1. Mai. 

Wenn der Tag der Arbeit auf ein Wochenende fällt, erklärte mir Thomas, wird er in Griechenland am nächsten Werktag nachgefeiert. Gestern war Ostermontag, it’s an orthodox thing, weshalb der 1. Mai eben auf den 4. Mai fällt. Und auch noch auf den 6. Mai, wegen Corona, damit nicht alle am selben Tag zusammen auf die Straße gehen. Und schon hab ich wieder überhaupt keine Lust mehr, jemals nach Hause zurückzukommen. 

»In Deutschland kann es keine Revolution geben, weil man den Rasen dazu betreten müsste.« Dieser Satz wird Josef Stalin zugeschrieben, vielleicht hat er ihn aber auch nur in einem Gespräch zitiert, jedenfalls musste ich neulich daran denken, als wir auf der Straße zum Strand von Egremni vor einem Absperrgitter standen. Der Strand ist mein Sehnsuchtsziel, seit wir vor vier Jahren zum ersten Mal auf Lefkada waren. Seit vier Jahren ist der Zugang gesperrt, weil ein Erdbeben 2015 sowohl die Straße als auch die Treppen zum Strand zerstört hat. Und seit vier Jahren heißt es, im nächsten Jahr sei das Problem bestimmt behoben. 

Auf Youtube kann man Videos sehen, die zeigen, dass die Arbeiten an den Treppenstufen ganz offensichtlich abgeschlossen sind. Auch die Straße macht einen tadellosen Eindruck. Aber da ist eben dieses Gitter. Und weil uns nicht ganz klar ist, ob wir überhaupt richtig offiziell hier in Griechenland sein dürfen, wollten wir uns an die Regeln halten, den Strand von einer Klippe in 200 Metern Höhe anschmachtend. 

Die Frau von der Ferienhausvermittlung, die ich aufgrund meiner mangelnden Griechisch-Kenntnisse um Unterstützung bat, brachte für mich in Erfahrung, dass der Zugang zum Strand erst Mitte Juni offiziell eröffnet wird (werden soll). Bis dahin sind wir wieder zurück in Deutschland. Sie erzählte von einem Bekannten, der ein kleines Boot habe, mit dem er uns zum Strand bringen könnte. Aber offiziell ist auch das verboten, weil derzeit nur Schiffe mit weniger als acht Metern Länge raus aufs Meer dürfen und auch das nur zum Fischen. 

Dann fragte sie: »Warum springt ihr nicht einfach über den Zaun?« Anstelle einer Antwort fragte ich sie, ob es nicht möglich wäre, von der zuständigen Behörde eine Sondergenehmigung zu bekommen, ich sei Journalistin und hätte vor, eine Reisereportage über den Strand zu schreiben. Sie hatte bereits mit der Behörde telefoniert. »Die haben gefragt, warum ihr nicht einfach über den Zaun springt.« Aber wäre es nicht irgendwie peinlich, wenn Bauarbeitern uns dabei ertappen würden? »Die helfen euch über den Zaun zu springen. It’s what we would do, it’s greek.«

Falls in den kommenden Wochen eine Reisereportage über Egremni von mir in der ZEIT erscheint, haben wir es getan. Falls nicht auch, aber dann lebe ich jetzt in einer Hütte am Strand und habe keinen Internetempfang. 

Impfling

So schöne Wörter kann nur Deutschland erfinden: Wir haben jetzt die »Bundesnotbremse« gezogen, und das heißt unter anderem: Ausgangssperre ab 22 Uhr bis morgens um 5, nur das Joggen bis Mitternacht hat irgendein begnadeter Landespolitiker als Ausnahme noch durchgesetzt. Gemessen an den griechischen Ausgeh-Regeln ist das ein Klacks, wird aber heftig diskutiert, was ich übrigens im Prinzip nicht schlimm finde, es geht schon auch um Grundrechte. Nur die Hysterie und die brutale Polarisierung, mit der das hier in Deutschland geschieht, machen mich fertig.

Jede Menge Tunnel also, aber vom Licht wollten wir reden. Bitte sehr: Ich bin geimpft. Das freut mich natürlich an sich schon mal sehr, auch wenn es bis zur Zweitimpfung dauert. Aber fast noch heller leuchtet für mich das, was ich im riesigen Frankfurter Impfzentrum sonst noch erlebt habe.

Ich weiß nicht, wie viele Leute das sind, die in der riesigen Festhalle am Messegelände Wege weisen, Unterlagen anschauen, wieder Wege weisen, Impfpässe stempeln und, ach ja: Menschen impfen. Und: lächeln. Ich habe selten so viel, so ausnahmslose, so unermüdliche Freundlichkeit auf einem Haufen gesehen. Ich kam aus dem Danke sagen gar nicht mehr raus. Ich dachte: Wenn das die Menschen sind, die die Entscheidungen und Nichtentscheidungen und Irrtümer und Fehler, die es ja auch jenseits des Diktatur-Geschreis an der Politik zu kritisieren gilt, exekutieren und ausbaden »dürfen« – dann fühle ich mich doch mal wieder so richtig zu Hause.

Mein Impftermin war nachmittags, und ich habe die freundliche junge Frau, die an diesem Sonntag ich weiß nicht wie viele hundert Unterlagen geprüft hat, gefragt, wie lange das für sie noch weitergeht. Um 22 Uhr ist der letzte Termin, um elf bin ich wohl hier raus, sagt sie. Und lächelt mit den Augen. Noch lange vor ihrem Feierabend habe ich zu Hause einen Schluck auf ihr Wohl getrunken.

Stephan Hebel
Unter dem Titel »Am Ende des Tunnels« wollen mein Freund und Kollege Stephan Hebel und ich uns in den kommenden Monaten in wöchentlicher Folge auf die Suche nach Lichtblicken machen, im Großen wie im Kleinen.

Zitronen

Das mit dem Licht ist oft gar nicht so einfach. Zumal man doch deutlich den Eindruck hat, dass viele sich der Tunnelhaftigkeit unserer gegenwärtigen Existenz nicht mal übermäßig bewusst sind. Die FDP zum Beispiel: Hat darin Poster aufgehängt, Teelichter angezündet, deklariert das Ganze als Partykeller und hat angekündigt, gegen nächtliche Ausgangssperren vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen. 

Herrje. Es gibt viele Situationen, in denen ich es als Einschränkung meiner Freiheitsrechte empfinden würde, mit einem Gurt fixiert zu werden. Aber mit Tempo 200 auf der Autobahn? 

Hier in Griechenland muss ich, wenn ich das Ferienhaus verlasse, ein Formular ausfüllen, auf dem anzukreuzen ist, aus welchem Grund man sein Haus verlässt und um welche Uhrzeit. Sie nennen es „Extraordinary Movement Permit“, weil moves in einer Pandemie halt nicht ordinary sein sollten, aber wem sag ich das. Zur Auswahl stehen: B1 Going to the pharmacy or visiting a doctor or to donate blood, in the case that this is recommended after a previous communication, B2 Going to an in-service basic goods supply store, where its commodities cannot be delivered, B3 Going to a government service or the bank, insofar an electronic transaction is not possible, B4 Going to help people in need or escort minor students to/from school, B5 Going to a funeral ceremony under the conditions as provided by law or movement of divorced or legally seperated parents, in accordance with the applicable provisions, B6 Short movement, near my home, for individual physical exercise (excluding any group sport activity) or for pet needs. Leider kommen die Straßenkatzen bei uns ans Haus. 

Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass wir nach Griechenland gefahren sind, weil die Corona-Regeln strenger sind. Aber ich fühle mich tatsächlich deutlich sicherer. Natürlich gibt es auch hier Menschen, die sich nicht an die Auflagen halten. Aber immerhin gibt es welche. Und meines Wissens droht auch nicht alle Nase lang jemand mit Klage dagegen. 

Weil ich keine Lust habe, mich mit der Nachrichtenlage in Deutschland zu beschäftigen, habe ich am Wochenende ein Interview mit Nora Tschirner im SZ-Magazin gelesen. Ich finde Nora Tschirner ziemlich sympathisch. Sie wird darin unter anderem gefragt, ob sie sich noch ihre Auftritte bei Harald Schmidt ansehen kann, der sie mal eine der Top-3-Talkshowgäste in Deutschland genannt hat. Ich habe mir daraufhin einige dieser Auftritte bei Youtube angesehen, darunter auch diesen hier. 

Und obwohl mich wirklich genervt hat, dass direkt im Anschluss an Annalena Baerbocks Nominierung zur Kanzlerinnenkandidatin der Grünen bei Phoenix über ihr Alter (40 – was bei Politikerinnen offenbar ein Problem ist, bei Schauspielerinnen aber auch, nur ganz anders) und die Tatsache diskutiert wurde, dass sie Mutter zweier kleiner Kinder ist und wie man das bitte schaffen möchte, so als Kanzlerin (was in den vergangenen Pandemie-Monaten niemanden interessiert hat: wie Frauen das schaffen, als Mütter und Journalistinnen, Verkäuferinnen, Busfahrerinnen), obwohl mich wirklich genervt hat, dass Caren Miosga (die ich an sich auch ziemlich sympathisch finde) Annalena Baerbock beim ersten Tagesthemen-Interview nach der Nominierung innerhalb von fünf Minuten gleich drei Mal ins Wort fiel, obwohl mich wirklich nervt, dass so getan wird, als müsste man für diese Selbstverständlichkeit – dass eine Frau zur Spitzenkandidatin nominiert wird, wenn sie es kann und möchte – vor allem Robert Habeck auf Knien danken. 

Trotz alldem habe ich diese Aufzeichnung angesehen und dachte: mit dem Stuhl ganz nah an eine junge Frau rollen und sagen: „Ich habe gerade ein Buch gelesen, in dem sich eine 24-Jährige vollkommen einem 48-Jährigen ausliefert“ (hodiges Gelächter im Saal, Tschirner auf ihre nicht vorhandene Armbanduhr schauend) – das wäre heute so nicht mehr drin. Nicht ohne Shitstorm. Und dann hab ich eine Flasche Wein aufgemacht und auf die Cancel Culture getrunken. Weil ganz bestimmt nicht alles gut ist. Aber immerhin besser als vor 15 Jahren. Ein Lichtstrahl, finde ich.

P.S.: Ach so, Zitronen – um die geht es nicht. Aber Du glaubst ja nicht, wie viele hier wachsen!