tag 10

Liebe Karin,

schöner hättest Du das C-Thema nicht umkurven können! Was Du schreibst, vermittelt mir ganz wunderbar diese Stimmung, in der vermeintliche Randerscheinungen wie Kurven, Sonnenuntergänge etc. das Zeug dazu haben, den Tag so auszufüllen, dass sich unwillkürlich die Frage stellt: Woher nehme ich eigentlich sonst immer die Zeit zum Arbeiten?

Was mich umtreibt: Steht da echt an beiden Enden der Straße „downhill“? Andererseits bin ich beruhigt, dass Du erwähnst, es sei auf dem Weg zum Haus dann doch „hinauf“ gegangen. Die irdischen Verhältnisse (eine Richtung runter, eine Richtung rauf) scheinen also noch einigermaßen gewahrt zu sein, Götter hin oder her.

Bei uns ist gestern ein brutales Gewitter durchgerast, zum Glück ohne schlimme Folgen. An der Hitze hat es wenig geändert, aber etwas kühler war es dann doch, ich habe den Tag auf dem Balkon sehr genossen. Das Büchlein über die „Verantwortung der Linken“, das ich durchgelesen habe und rezensieren möchte, war nicht der Kracher, aber ich habe mal ein paar Stunden auf Papier geschaut statt aufs Laptop, das war gut.

Überhaupt geht es im Job relativ ruhig zu. Ich habe Gelegenheit, meinen Kopf ein bisschen zu füttern, das hat er ganz gern, egal ob mit Büchern oder mit einer wunderbaren Sitzung wie der, bei der ich gestern war (großer Abstand, weit geöffnete Fenster). Nicht in der FR-Redaktion, sondern in anderem Zusammenhang, da waren verdammt kluge Leute. Muss ich Dir mal erzählen.

Gestern Abend, nach dem Gewitter, zwei wunderbare Stunden mit meinem besten Freund T. in seinem Kleingarten bei einem Bier. Ein gemütlich vor sich hin mäanderndes Gespräch in der anbrechenden Dämmerung. Das hätte so weitergehen können, aber ich wollte nach Hause zur Frau. Vom Sonnenuntergang haben wir nichts gesehen.

tag 9

lieber stephan, 

du hast wie eigentlich fast immer vollkommen recht, deshalb habe ich mir vorgenommen, das c-wort ein paar tage lang zu vermeiden – vielleicht fällt der schorf dann irgendwann von alleine ab. ich will trotzdem von einer kurve erzählen. sie beschreibt kein pandemie-geschehen, sondern liegt auf dem weg von afissos, dem uns nächsten dorf am pagasitischen golf, hoch zu unserem ferienhaus. 

der vermieter und sein nachbar hatten uns lange vor der anreise vor dieser kurve gewarnt. gefährliche linkskurve, hatten sie gesagt. wir haben beide noch nie gesehen, aber sie sind über 70 und aufgrund ihres vorsprungs an lebenserfahrung stelle ich sie mir äußerlich ein bisschen vor wie den gott mit dem finger in der sixtinischen kapelle: bärtig, grau, linkskurvenerfahren. mein mann sagte: ha! er ist tatsächlich ein sehr guter fahrer und versteht es, ein auto souverän zu steuern, selbst rückwärts, jedenfalls dann, wenn er ohne mich unterwegs ist und meine taschen und meine gitarre nicht die sicht verstellen

wir fuhren also am späten abend in tiefer dunkelheit die straße zu unserem haus hinauf. mein mann sagte: oh, DAS ist die linkskurve. dann drehten die reifen durch. 

später, bei tageslicht, haben wir gesehen, dass an beiden enden der straße schilder mit der aufschrift: „attention! the road to afissos is downhill & dangerous“ aufgestellt sind. freundliche griechen haben handschriftlich die nummer des notrufs, 112, vermerkt. 

wir haben in dieser nacht beschlossen, die straße für den rest des urlaubs nicht zu befahren. gestern abend liefen wir zu fuß hinunter, ich schlitterte in sandalen über das glattgebremste, angstschweißpolierte pflaster, als ein paar im auto unverhofft den sachgerechten umgang mit der linkskurve demonstrierte. der fahrer hieß seine beifahrerin aussteigen, die mit einem mobiltelefon in der hand die straße hinunter lief, ihn aus der kurve heraus verständigte, woraufhin er die fahrt fortsetzte, sie unterwegs aufsammelnd. geht auch umgekehrt, klar, aber das linke hinterrad hebt in der kurve immer vom boden ab, ich habe das beobachtet. die götter nickten zufrieden. ich glaube, sie mögen die linkskurve. 

und der sonnenuntergang in affisos war himmlisch. 

besitos

* karin

  

tag 8

Liebe Karin,

das Foto habe ich gemacht, bevor ich erfahren habe, dass Olaf Scholz Kanzlerkandidat der SPD wird. Super-Tag, na ja. Das ist sicher nicht das wichtigste Thema auf Erden, aber mich belastet es schon, wie dieses Land offenbar mit Vergnügen in eine Zukunft döst, die etwas anderes erfordern würde als einen Verwalter bestehender Verhältnisse. 

Ich habe gleich über Scholz geschrieben, erst einen schnellen Online-Kommentar und dann den Leitartikel für die FR von morgen. Mir tut das immer ganz gut – ein großartiges Privileg, wenn man seine Gedanken, seine Kritik, seine Sorgen, seine Einschätzung gleich in eine Form bringen darf, die andere hoffentlich zum Weiterdenken anregt (oder wo ich mir das zumindest so einbilden kann).

Ich habe mich gefreut, dass Du gestern ganz am Schluss noch geschrieben hast, ich solle mir keine Sorgen machen. Vielleicht geht es euch ja immer besser, je mehr ihr euch von dem Fluchtgedanken verabschiedet? Vielleicht gibt es einen Rhythmus, in dem man dem Virus die Phasen des Genusses abringen kann, ohne es vergessen zu müssen? Vielleicht ist der Schorf an der Wunde, von dem Du schreibst, wie im „richtigen“ Leben ein Zeichen der Heilung, der Wiederherstellung einer Schutzschicht?

Die Männer mit den freien Nasen sind mir übrigens auch schon aufgefallen. Aber an den Spruch „Wie die Nase des Mannes…“ mochte ich noch nie glauben. Vielleicht weil es unangenehm ist, daran zu denken, wenn man sich manche Rotzlöffel anschaut, die so rumlaufen. Oder fahren, um beim Schwanzding zu bleiben: Unterdimensionierte Männer in ihren überdimensionierten Kisten. Am liebsten röhrend, auf jeden Fall irgendwas kompensierend. 

Nebenan plantschen Kinder im Pool der reichen Nachbarn, und ich denke an euch beim Schwimmen. Bleibt meerumschlungen!

Besitos, Stephan

tag 7

lieber stephan, 

ich bin froh zu hören, dass es deiner schulter wieder besser geht! noch mehr einschränkungen als ohnehin braucht gerade niemand.

versuchen menschen wie wir, die ja doch ziemlich wild entschlossen ihre urlaubspläne verfolgen, dem corona-alltag zu entfliehen? ich hab mich das heute gefragt, als wir mit unseren nachbarn ins gespräch kamen. wir leben hier auf einem hügel in der mitte des pilion, umgeben von olivenbäumen, algarven und oleandern, ein paar steinhäuser, von denen aus man zu fuß das meer erreichen kann. gestern nacht saßen wir auf der terrasse und haben einem gewitter am gegenüberliegenden ufer zugesehen. ein starker, warmer wind ging und am horizont leuchteten blitze. es war wie im theater. nein, eigentlich war es besser. wie verheerend sich dieses schauspiel 100 kilometer entfernt auf euböa ausgewirkt hat, erfuhren wir erst am nächsten morgen.

die neuen nachbarn erzählten uns, dass sie sechs wochen lang krank waren. sie sind ziemlich sicher, corona gehabt und überstanden zu haben. wir erzählten von unserem test am frankurter flughafen, der einreise in griechenland und der kontrolle unserer papiere. wir waren uns einig darin, wie belastend das alles ist und wie froh wir darüber sind, jetzt mal ein paar wochen ruhe davon zu haben. dann verabschiedeten wir uns. und hatten eine viertelstunde lang über nichts anderes gesprochen als das virus. wir alle sind wund und können kaum anders als am schorf zu knibbeln. wenn das hier eine flucht sein sollte, ist sie gescheitert. 

zumal uns gestern morgen eine warnung der corona-app auf dem smartphone begrüßte: ein positiv gestesteter mensch hat sich „über einen längeren Zeitpunkt und mit einem geringen Abstand“ in unserer nähe aufgehalten. passiert sein kann das eigentlich nur am frankfurter flughafen, im testzentrum. der mann hinter uns hatte seine maske unter der nase hängen, aber ich bezweifle, dass er die app benutzt, eben weil er die maske auf der oberlippe hängen hatte. was ist los mit diesen typen (es sind fast immer typen), die ihre nase entblößen müssen? ist das ein schwanzding? 

ich halte für ausgeschlossen, dass wir uns in der schlange im testzentrum wirklich angesteckt haben. alle wartenden trugen masken, wenn auch mitunter auf halbmast. und die app schlägt an, ob du mit einem positiv getesteten knutschst oder zwei meter hinter ihm im supermarkt stehst, beiderseits MNS-geschützt. dennoch verschonen wir unsere mitmenschen sicherheitshalber noch ein paar tage von uns. auf der terrasse sitzend. in olivenbaumkronen blinzelnd. im meer schwimmend. mach dir keine sorgen, es geht uns gut. manchmal kommen uns katzen besuchen.

besitos

* karin

tag 6

Liebe Karin,

Deine Nachricht ist mir trotz der 2370 Kilometer sehr nahegegangen. Du hast mich ein bisschen das Gefühl mitspüren lassen, dass das „Wiederfinden“ von etwas Altvertrautem, immer für sicher Gehaltenem den Verlust von Sicherheit und Vertrautheit noch deutlicher, noch schmerzhafter werden lässt. Verzeih den blöden Vergleich, aber ich musste an meine leicht lädierte Schulter denken, die für ein paar Tage ein bisschen geschmerzt hat. Jetzt fühlt sich alles wieder fast normal an, und erst im gesunden Zustand ist mir klargeworden, wie unangenehm das Gefühl des Krankseins, der eingeschränkten Bewegungsfreiheit (wenn auch nur eines Arms) war.

Wir hatten gerade Besuch von einer sehr, sehr lieben Verwandten, saßen mit ihr und dem Kater der Nachbarin draußen und haben lange darüber gesprochen, welches Privileg es auch schon bedeutet, über ein ruhiges und vertrautes Plätzchen zu Hause zu verfügen, wo man sich wenigstens in Worten nahekommen kann. Am Schluss hat sie fast verschämt gefragt, ob wir uns vielleicht kurz umarmen könnten… Wer wäre vor der verdammten Pandemie auf so eine Idee gekommen!

Aber wir waren uns auch einig, dass jedenfalls für uns, die wir uns keine großen materiellen Sorgen machen müssen, diese Einschränkungen im Sozialleben auch ein paar Möglichkeiten zum Nachdenken eröffnen. Zum Beispiel über das Termingehetze im Beruf wie im Privaten. Nein, ich will Corona nicht schönreden. Ich merke nur, dass auch diese Krise nicht ganz und gar ohne Chancen ist.

Den Kater der Nachbarin haben wir übers Wochenende in Pflege. Das Tier macht auf Melancholie, und wir fragen uns, ob Katzen vielleicht doch so anhänglich sein können, dass sie „Frauchens“ Abwesenheit aus der Bahn wirft. Ach, wahrscheinlich ist es einfach die Hitze. Eine Meerbrise könntest Du uns rüberschicken!

Lass Dich weiter umarmen, vom Meer und von allem, was Du liebst.

Dein Stephan